Adieu Istanbul behandelt das Thema Identität und Zugehörigkeit. Die Menschen, die in ihrem Film auftreten, wurden gewaltsam entwurzelt. Was halten Sie von der gegenwärtigen Situation der Flüchtlinge in Europa?

Wir vergessen oft, dass auch heute die meisten Flüchtlinge nicht freiwillig ihre Heimat verlassen. Nur wenige von uns können sich vorstellen, was es heisst, seine Familie, seine Freunde, seine vertraute Umgebung für immer verlassen zu müssen und irgendwo in der Fremde eine neue Existenz aufzubauen

– womöglich nocht in einem Land, in dem einem viele Menschen ablehnend gegenüberstehen.

Was Menschen empfinden, die ihre Identität verbergen müssen, die (deshalb) gezwungen werden, ihre Heimat zu verlassen, ist wahrscheinlich überall das Gleiche auf der Welt, und wahrscheinlich auch zu allen Zeiten. Sie müssen sich ständig “verstecken”, selbst bei „guten Freunden“ aufpassen, dass die nicht erfahren, wer sie wirklich sind. Sie leben in Angst, weil sie nicht wissen, was Ihnen morgen geschieht. Sie wissen nur, sie können sich nicht wehren, denn sie haben die nicht die gleichen Rechte, wie die Gesellschaft, in der sie leben. Sie wissen, dass sich keiner um sie kümmert, dass sich keiner für ihr Schicksal interessiert.

Der Film befasst sich mit der griechischen Gemeinde in Istanbul, die über die Jahre nach und nach kleiner wird. Jetzt will eine junge Generation zurück und dort ein neues Leben beginnen. Glauben Sie, dass diese Generation ein neues Verhältnis mit der türkischen Gesellschaft knüpfen kann, frei von Gedanken an das, was in der Vergangenheit geschah?

Ich glaube, die junge Generation in der Türkei und die junge Generation in Griechenland können sich heute offener begegnen als früher. Die jungen Mitglieder der griechischen Gemeinde in Istanbul reden heute ohne Scheu über die dunklen Zeiten der Vergangenheit. Keiner der jungen Männer und Frauen aus Griechenland, mit denen ich in der Türkei Kontakt hatte, haben am Bosporus je eine Ablehnung oder eine Art von Diskriminierung erfahren, weil sie Griechen sind. Etliche waren darüber erstaunt, denn sie hatten etwas ganz anderes erwartet, zum Beispiel weil sie früher in der Schule von ihren Lehrern über die Türkei und die Türken viel Negatives gehört hatten. Ein wichtiger Faktor ist dabei auch, dass sich die Beziehungen zwischen Ankara und Athen gebessert haben. Auch Deutsche und Franzosen können sich heute freundschaftlich und offen begegnen, obwohl sie in ihrer Geschichte jahrhundertelang nur Feindschaft und Krieg kannten.

Hat sie irgend einer ihrer Mitwirkenden gebeten, etwas von ihrem Drehmaterial nicht zu verwenden? Gab es irgendwelche Versuche der Einflussnahme bei den Dreharbeiten?

Behinderungen von türkischer Seite bei den Dreharbeiten gab es keine, im Gegenteil: Etliche ältere türkische Ladenbesitzer im Zentrum der Stadt bedauerten auch vor der Kamera offen die Aggression damals gegen die griechische Gemeinde in Istanbul. Einer meinte: Damals, als das Zentrum der Stadt noch voll war mit Geschäften der verschiedenen Minderheiten, der Juden, Armenier und Griechen, damals sei Istanbul eigentlich eine Kulturhauptstadt Europas gewesen. Etliche aus der Griechischen Gemeinde in Istanbul, die wir fragten, wollten nicht vor der Kamera über ihre Geschichte reden. Es gibt noch Angst vor negativen Reaktionen, wenn man offen spricht, vor allem bei vielen älteren Menschen. Aber sie ist nicht mehr so gross, wie früher. Sonst hätten wir diesen Dokumentarfilm auch nicht drehen können. Vor 10 Jahren noch wäre es glaube ich nicht möglich gewesen, solch einen Film zu drehen.

7. März 2013