Könnten Sie erzählen, wie Sie nach Istanbul gekommen sind? Wieso haben Sie sich Istanbul zum leben ausgesucht?

Nicht ich habe mir Istanbul ausgesucht, Istanbul hat mich ausgesucht. Ich hatte nie vor, in die Türkei zu kommen – oder gar in der Türkei zu bleiben.Am 2. Januar 1991 hatte mich die ARD gefragt, ob ich nicht wegen eines Interviews für einen “Brennpunkt” (das ist eine aktuelle

Sondersendung in der ARD) für drei Tage in die Türkei fliegen könnte.  Alle meine Kollegen waren in Skiurlaub, ich aber bin kein Winterurlauber. Fast ein Jahr lang lebte ich in einem Hotel am Bosporus, denn ich dachte damals, in ein oder zwei Wochen werde ich wieder nach Deuschland zurückkehren. Aber ich bin immer noch hier. Inzwischen bin ich ein Auswanderer geworden, ohne dass ich das je beabsichtigt hatte – ähnlich wie viele Türken, die einst nach Deutschland gingen und immer dachten, sie würden wieder in die Türkei zurückkehren.

Sie erzählen mit ihren Fotografien von IstanbulKönnen Sie das auch in Worte fassen? Wie haben sie ist dann wohl in den ersten Jahren erlebt, wie erfahren Sie Istanbul heute ?

Als ich vor knapp 20 nach Istanbul kam, lag der Stadtteil Beyoglu z.B. nachts noch im Dunkeln. Nur wenige wagten sich dort nach 22 Uhr auf die Strasse. Es gab keine Galerien, nur ein paar Kinos mit durchgesessenen Polstern und Filmen auf dem Niveau des deutschen Quatschkinos der 60iger Jahre. Damals hatte man noch einen Mitleidsbonus, wenn man in Deutschland erzählte, man lebe in Istanbul. Heute erntet man eher ein neidisches Ach Jaaa?, wenn man sagt, man lebe am Bosporus. Vor allem das Image Istanbuls hat sich in Europa – und offenbar nicht nur dort – sehr gewandelt. Die Stadt – und nicht nur die Stadt – hat sich in dieser Zeit ja auch in rasantem Tempo gewandelt. Während man in Deutschland für Politik und Kaffe Werbung macht mit dem Slogan: Alles soll so bleiben wie es ist ! – weiss man in Istanbul schon nach drei Wochen Aufenthalt im Ausland beispielsweise: Es gibt wieder viel Neues zu entdecken.

Das war es auch vor allem, was mich in der Türkei und in Istanbul gehalten hat. Allein im Kultursektor hat sich viel geändert: Auch wenn immer noch einige türkische Tageszeitungen nicht einmal einen Kulturteil haben, es gibt inzwischen jährlich ein Filmfestival mit mehreren Hunderttausend Zuschauern, ein Festival der klassischen Musik, das Theater-, das Jazz- und nun auch das Operfestival, die Biennale - und das Stadtzentrum ist nun nachts hell erleuchtet, es gibt dort dutzende Galerien und ich frage mich manchmal, wo die plötzlich all die Bilder und andren Ausstellungsstücke hernehmen, um. Es gibt eine Kunstmesse für moderne Kunst – und eine Modewoche. Die Zeiten sind vorbei, da türkische Modedesigner erst beweisen müssen, dass sie ihre Kollektion nicht irgendeinen Modemacher aus dem Westen kopiert haben. Das war vor rund 15 Jahren, als man in Istanbul noch Kleider trug, keine Mode und die Textilindustrie vor allem preisgünstig Hemden fürs Ausland nähte.

Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs, mit der Öffnung der Grenzen rund um das Land hat sich auch die Stadt mehr und mehr geöffnet. Und es sind – soweit es den Kultursektor betrifft, vor allem die jungen Künstler, die der Stadt ein neues „Image“ gegeben haben. Sie verkörpern die Öffnung der Stadt, den Aufbruch der jungen Generation, die sich auch von Hindernissen oder widrigen Umständen nicht kleinkriegen lässt. Und Hindernisse oder widrige Umstände gibt es bekanntlich in Istanbul noch genug.

Lassen Sie uns über Ihre Ausstellung “Gesichter der Türkei “ vom letzten Frühling sprechen. Welche Reaktionen gab es während der Aufnahmen, welche bei der Ausstellung? Was haben Sie da beobachtet?

Eigentlich war ich wegen einer anderen Arbeit auf der Baustelle gewesen und hatte eher zufällig ein paar wenige Arbeiter fotografiert. Als ich zu Hause Zeit hatte, die Bilder genauer zu betrachten, war die Entscheidung leicht: Das für mich wichtige Projekt dieser Baustelle sind die Bilder der Arbeiter. Denn als ich ihre Gesichter sah, dachte ich: Sie können dem Betrachter etwas erzählen, etwas, was er nicht so häufig erfährt, etwas, was er nicht so häufig sieht. Etliche meiner Fotoprojekte sind so entstanden, Szenen der Istiklal-Caddesi zum Beispiel: Ich hatte nie die Absicht, solch ein Projekt zu realisieren, aber ich wohne in der Nähe, ich gehe oft ein Stück über die Istiklal-Caddesi – und wenn ich unterwegs bin, habe ich meinen Fotoapparat meistens dabei. So sind zunächst eher zufällig einige Bilder enstanden, bei deren näherem Betrachten ich entschied: Daraus könnte ein eigenes Projekt entstehen

Zunächst dachte ich eigentlich, die Arbeiter sind eher zurückhaltend gegenüber einem Fotografen, wollen nicht fotografiert werden. Das Gegenteil war der Fall: Manche wurden vielleicht noch nie aufgenommen, manche schienen erstaunt, dass ein Fotograf nur um sie aufzunehmen, auf ihre Baustelle kommt. Es waren von 500 Arbeitern nicht mehr als 5, die nicht fotografiert werden wollten. Das Besondere war vielleicht: Keiner versuchte, sich in “Pose” zu setzen. Das macht die meisten Portraits wohl auch besonders. Andererseits wurden sie nach 2 Minuten auch ungeduldig: “Du wolltest doch nur ein Foto von mir machen, bist du immer noch nicht fertig ?” Das Schwierige war also, in wenigen Sekunden zu entscheiden: Wen fotografiert man wie? Vor welchem Hintergrund? Mit Aufhellung oder ohne? Mit welchem Ausschnitt (ich verändere fast nie nachträglich den Ausschnitt eines Fotos ) Und ich hatte meist nur “einen Versuch”. Bei den Portraits der Frauen war es gerade umgekehrt: Die Frauen liessen sich geduldig aufnehmen, aber alle versuchten “sich in Pose” zu setzen, sodass ich die meisten während des Sprachunterrichts aufnahm.

Manche Besucher der Ausstellung kritisieren in unserem Gästebuch, wieso ich nicht “bedeutende” Türken aufgenommen hätte, mit “schönen Gesichtern”. Ich halte Menschen, die in ihrem Land hart arbeiten, um ihre Familie zu ernähren, für bedeutend. Ich persönlich halte sie für sogar für bedeutender als manchen Schlagersänger oder TV Star. Ich halte auch alle ihre Gesichter für “schön”. Spricht mich ein Besucher mit dieser Kritik an, bitte ich ihn meist, mir ein Gesicht zu zeigen, das er hässlich findet – und mir zu erklären, was daran hässlich ist.

Natürlich arbeite ich an Projekten mit anderen Menschen und Gruppen der Türkei. Wie will man ein Land kennenlernen, wenn man ihre Menschen nicht kennelernt. Dabei lernt man natürlich immer nur etwas Bestimmtes, einen bestimmten Ausschnitt kennnen. In der Türkei leben rund 70 Mio Menschen unterschiedlichen Alters, mit den verschiedensten Berufen, Reiche und Arme. Ein Kollege hatte gerade an einem Projekt gearbeitet: 100.000 Portraits ! Wer alle 100.000 Bilder gesehen hat, der hat aber 69 Millionen 900.000 noch nicht gesehen. Ich versuche das zu tun, was mir möglich ist: Ich nehme mir an bestimmten Ort Zeit, und schaue genauer hin. Vielleicht gelingt es mir so, etwas sichtbar zu machen, das auf den ersten Blick nicht sichtbar war.

Wie sehen Sie Istanbul als Fotograf und Filmemacher ?

“Wie ist Istanbul denn so”, werde ich oft gefragt, wenn ich in Deutschland bin. Vor dieser Frage stehe ich genauso ratlos, wie wenn mich einer fragt: “Wie ist die Türkei denn so”? Deshalb hatte ich vor wenigen Jahren in einem Buch die Portraits von verschiedenen Menschen der Türkei gezeigt und ihre Geschichte gezählt, von einem Scheich im Osten der Türkei und einem Modeschöpfer in Istanbul, von einem Schäfer in den Bergen, einer Derwischin und eine Archäologie-Professorin. Die Türkei und Istanbul ist an jeder Ecke anders, immer wieder neu – und gäbe es nicht ständig Neues zu entdecken, wäre ich vielleicht auch nicht so lange am Bosporus geblieben. All diese Vielfältigkeit des grossen Landes ist in Istanbul zusammengefasst – und noch viel mehr. Sind das Vorteile ? Es sind eher glückliche Umstände, denn natürlich lassen sich “gute Fotos” auch in einer “öden Landschaft” aufnehmen. Da ich viel mit Menschen arbeite, Menschen fotografiere, ist es vielleicht ein Vorteil, “Ausländer” zu sein. Ich fotografiere meist mit einer kleinen Kamera ohne grosse Ausrüstung, die meisten halten mich für einen Touristen, und beachten mich deshalb oft nicht weiter. Türkische Kollegen dagegen erzählen mir oft, sobald sie ihre Kamera nur auspacken, kommen schon Umstehende auf sie zu und fragen in scharfem Ton: Was fotografieren Sie da? Fotografieren Sie etwa mich? Davon bleibe ich meist verschont.

Film ist ein ganz anderer Arbeitsbereich: Beim Fotografieren arbeitet man meist allein, allenfalls mit einem Assistenten, beim Film arbeitet man mit einem ganzen Crew – und man greift viel mehr in das “Alltagsleben” ein als beim Fotografieren. Film ist immer auch Inszenierung, ganz egal, wie “dokumentarisch” man arbeitet (ausser man dreht mit versteckter Kamera, was ich noch nie tat). Über den Unterschied zwischen der Arbeit als Fotograf und der Arbeit als Filmemacher müsste man ein eigenes Kapitel schreiben.

Wo verbringen Sie am liebsten Ihre Zeit in Istanbul ?

Am liebsten an den Orten, an denen ich noch nicht war. Ich habe keine “Stammkneipe”, wo man mich jede Woche mehrmals treffen kann. Ich gehe lieber in eine Bar oder Disko, in der ich noch nicht war. Das können ruhig auch (nach meinem Geschmack) absurde Lokale sein. Ich erinnere mich zum Beispiel an einen Bar, die erst Morgens um 5.30 Uhr nach und nach voll wurde und in der nicht Frauen, sondern männliche Bauchtänzer auftraten. Das macht ja Istanbul so spannend, dass es ganz Verschiedenes, Gegensätzliches, Tür an Tür gibt. Natürlich gehe ich immer mal wieder in das gleiche Museum wegen einer neuen Ausstellung, aber auch da gibt es immer wieder Neue zu entdecken. Und solange das so ist, werde ich wohl auch in Istanbul bleiben.

12.August 2010