Was ist für Sie ein „gutes Foto“, was gehört dazu?

Das ist eine schwere Frage, denn wenn Sie fünf Fotografen oder auch fünf Menschen fragen, die eine Fotoausstellung besuchen, bekommen sie vielleicht 6 verschiedene Antworten. Immer wenn Schüler fragen, welche Regeln es denn für ein gutes Foto gibt, dann sprechen wir natürlich über Linien, Ausschnitte, Perspektive, Licht und Schatten etc. Die wichtigste Regel aber,

die ich immer wieder zu vermitteln versuche, ist: Es gibt keine. Probiere es aus ! Dann siehst du es. Es spielt auch keine keine Rolle, ob jemand die Aufnahme stundenlang mit allen Filtern von Photoshop bearbeitet hat – oder Photoshop garnicht benutzt. Es spielt auch keine Rolle, welche Kamera du benutzt. Einer wirft im Dunkeln sein Handy in die Luft während er fotografiert – und plötzlich sind solche Aufnahmen überall auf der Welt “Mode”. Andere fotografieren nur mit extremen Weitwinkelobjektiven, auch das scheint “Mode” zur Zeit, aber das heisst ja nicht, dass man mit solchen Objektiven nicht besondere Aufnahmen machen kann. Die einen finden “Strassenfotografie” “inzwischen überholt, andere inszenierte Aufnahmen im Studio “langweilig”, der Dritte hält nur “Serienaufnahmen” für etwas Besonderes. Und schon sind wir wieder bei der Frage: Was sind “besondere Aufnahmen?” Entscheide ich als Fotograf das? Oder der Betrachter ?. Einen treffenden Satz las ich einmal von Robert Bresson, dem französischer Filmregisseur. Der sagte einmal: "Mache sichtbar, was ohne Dich nie wahrgenommen werden würde". Analog oder Digital, farbig oder Schwarz-weiss? Dem “guten Foto” ist das egal.

Was sind denn ihrer Auffassung nach die Vorteile, wenn man als Fotograf in Istanbul lebt?

“Wie ist Istanbul denn so”, werde ich oft gefragt, wenn ich in Deutschland bin. Vor dieser Frage stehe ich genauso ratlos, wie wenn mich einer fragt: “Wie ist die Türkei denn so”? Deshalb hatte ich vor wenigen Jahren in einem Buch die Portraits von verschiedenen Menschen der Türkei gezeigt und ihre Geschichte gezählt, von einem Scheich im Osten der Türkei und einem Modeschöpfer in Istanbul, von einem Schäfer in den Bergen, einer Derwischin und eine Archäologie-Professorin. Die Türkei und Istanbul ist an jeder Ecke anders, immer wieder neu – und gäbe es nicht ständig Neues zu entdecken, wäre ich vielleicht auch nicht so lange am Bosporus geblieben. All diese Vielfältigkeit des grossen Landes ist in Istanbul zusammengefasst – und noch viel mehr. Sind das Vorteile ? Es sind eher glückliche Umstände, denn natürlich lassen sich “gute Fotos” auch in einer “öden Landschaft” aufnehmen. Da ich viel mit Menschen arbeite, Menschen fotografiere, ist es vielleicht ein Vorteil, “Ausländer” zu sein. Ich fotografiere meist mit einer kleinen Kamera ohne grosse Ausrüstung, die meisten halten mich für einen Touristen, und beachten mich deshalb oft nicht weiter. Türkische Kollegen dagegen erzählen mir oft, sobald sie ihre Kamera nur auspacken, kommen schon Umstehende auf sie zu und fragen in scharfem Ton: Was fotografieren Sie da? Fotografieren Sie etwa mich? Davon bleibe ich meist verschont.

Alle ihre Arbeiten haben ein bestimmtes Thema. Was hat sie zu diesem Thema gebracht?

Das ist so vielfältig wie die Themen. Manches ergibt sich zufällig, wie das Portrait-Projekt der Bauarbeiter einer Baustelle am Goldenen Horn. Eigentlich war ich wegen einer anderen Arbeit auf der Baustelle gewesen und hatte eher zufällig ein paar wenige Arbeiter fotografiert. Als ich zu Hause Zeit hatte, die Bilder genauer zu betrachten, war die Entscheidung leicht: Das für mich wichtige Projekt dieser Baustelle sind die Bilder der Arbeiter. Denn als ich ihre Gesichter sah, dachte ich: Sie können dem Betrachter etwas erzählen, etwas, was er nicht so häufig erfährt, etwas, was er nicht so häufig sieht. Etliche meiner Fotoprojekte sind so entstanden, Szenen der Istiklal-Caddesi zum Beispiel: Ich hatte nie die Absicht, solch ein Projekt zu realisieren, aber ich wohne in der Nähe, ich gehe oft ein Stück über die Istiklal-Caddesi – und wenn ich unterwegs bin, habe ich meinen Fotoapparat meistens dabei. So sind zunächst eher zufällig einige Bilder enstanden, bei deren näherem Betrachten ich entschied: Daraus könnte ein eigenes Projekt entstehen.

Offensichtlich haben für Sie dokumentarische Arbeiten eine besondere Bedeutung. Was reizt Sie daran besonders ?

Natürlich kann man bestimmte Themen inszenieren, um etwas besonders deutlich, sichtbar zu machen. Enige Fotografen haben in solchen Inszenierungen eine Meisterschaft erreicht. Ihre Assistenten suchen manchmal wochenlang zum Biespiel den “richtigen” Ort , denn der Fotograf weiss genau, wie das spätere Bild auszusehen hat, welche “Botschaft” es überbringen soll. Ich bin vielleicht weniger daran interessiert, eine “Botschaft zu vermitteln”. Ich bin eher “neugierig”, interessiert daran, selbst etwas zu “entdecken”. Auch das kann lange Zeit in Anspruch nehmen. Taucht in einem alltäglichen Geschehen eine Kamera auf, ist leider meist nichts mehr so, wie es “normalerweise” ist. Ich versuche das zu tun, was mir möglich ist: Ich nehme mir an bestimmten Ort Zeit, und schaue genauer hin. Vielleicht gelingt es mir so, etwas sichtbar zu machen, das auf den ersten Blick nicht sichtbar war. Man braucht also Geduld – und Glück. Manchmal hat man beides und dann , das ist meine Erfahrung, übertrifft die Wirklichkeit die Inszenierung fast immer.

Sind Ihnen bei ihren Portraitarbeiten auch die Geschichten der Menschen, die sie porträtieren, wichtig?

Für mich ist die Geschichte eines Menschen immer wichtig. Man muss nicht immer die Geschichte eines Menschen kennen, um etwas zu erfahren, wenn man (auf einem Foto) in sein Gesicht schaut, ein alter Mann vielleicht, mit halboffenem Mund. Er blickt sie an, fragend, nicht traurig, eher unsicher – aber mit finsteren Augen. Was denken Sie sich, wenn Sie ihn anschauen – und was denken Sie, wenn Sie erfahren, dass er aus Samsun stammt aber in einem Teegarten in Adana sitzt, 74 Jahre alt, seine Frau ist vor 4 Jahren gestorben – und Gauner haben ihm sein ganzes Geld abgenommen mit dem Versprechen, sie werden ihn in Adana wieder verheiraten. Nun sitzt der Alte vom Schwarzen Meer am Mittelmeer, die Gauner sind auf und davon und er hat nicht einmal mehr genug Geld, um nach Hause zu fahren. Leider gelingt es nicht immer, die Geschichte der Menschen, die man fotografiert, zu erfahren. Leider gibt es auch nur selten eine vernünftige Form, “ein Bild und seine Geschichte” widerzugeben. Meist sind “nur Fotos” gefragt, oder “nur Geschichten”.

Es gab eine Ausstellung „Gesichter der Türkei“. Was haben Sie als Ausländer bei den Aufnahmen gesehen, was sie an den Menschen aus Anatolien am meisten beeindruckt, haben sie bei den Aufnahmen etwas erlebt, was sie besonders berührt hat?

Zunächst dachte ich eigentlich, die Arbeiter sind eher zurückhaltend gegenüber einem Fotografen, wollen nicht fotografiert werden. Das Gegenteil war der Fall: Manche wurden vielleicht noch nie aufgenommen, manche schienen erstaunt, dass ein Fotograf nur um sie aufzunehmen, auf ihre Baustelle kommt. Es waren von 500 Arbeitern nicht mehr als 5, die nicht fotografiert werden wollten. Das Besondere war vielleicht: Keiner versuchte, sich in “Pose” zu setzen. Das macht die meisten Portraits wohl auch besonders. Andererseits wurden sie nach 2 Minuten auch ungeduldig: “Du wolltest doch nur ein Foto von mir machen, bist du immer noch nicht fertig ?” Das Schwierige war also, in wenigen Sekunden zu entscheiden: Wen fotografiert man wie? Vor welchem Hintergrund? Mit Aufhellung oder ohne? Mit welchem Ausschnitt (ich verändere fastnie nachträglich den Ausschnitt eines Fotos ) Und ich hatte meist nur “einen Versuch”. Bei den Portraits der Frauen war es gerade umgekehrt: Die Frauen liessen sich geduldig aufnehmen, aber alle versuchten “sich in Pose” zu setzen, sodass ich die meisten während des Sprachunterrichts aufnahm.

Geht es Ihrer Auffassung nach bei der Fotografie vor allem darum, etwas zu erzählen, zu zeigen oder geht es bei den Arbeiten vor allem darum bei den Menschen besondere Reaktionen hervorzurufen?

Zunächst möchte ich nur ein “gutes Foto” machen, nicht mehr und nicht weniger. Dabei interessiert mich auch nicht, ob man Fotografie als Kunst bezeichnet oder als was auch immer, ich weiss nicht, was es genau “erzählen” wird, und wie der Betrachter es findet. Aber kann man schliesslich beim Betrachten etwas erfahren, ist der Betrachter dann sogar beeindruckt, dann ist das natürlich sehr erfreulich.

Wenn von Anatolien die Rede ist – was heisst das für Sie ?

Ich denke, ich habe diese Frage schon mit der 2. Frage beantwortet. Was soll man darauf auch antworten bei einem Land mit Rgenwäldern am Schwarzen Meer, mit 5.000 Meter hohen Bergen, auf denen man ewiges Eis findet und Wüstenlandschaften, in denen es praktisch nie regnet?

25, April 2010