Das Buch bietet eine Bestandsaufnahme der türkischen Verhältnisse, wie sie sich zu Beginn des Jahres 2007 darstellen. Eine solche Zusammenfassung ist nach dem überwältigenden Wahlsieg der AKP von Ministerpräsident Erdogan (22. Juli 2007) und gerade trotz dieses Ergebnisses desto willkommener,

je weniger zuverlässig vorausgesagt werden kann, wie die türkische Politik sich weiter entwickeln wird.  Der Verfasser, ein professionell realisierter Reporter, war von 1992-2005 Leiter des ARD Büros in Istanbul. Sein Stil ist einfach und glasklar, wie es das Handwerk erfordert, und scheut die Umgangssprache nicht. Persönliche Erfahrungen werden eingestreut, wobei es der lockeren Diktion entspricht, dass nicht immer klar wird, wie Verallgemeinerung sind. Wir werden sowohl in den Alltag als auch in die politische Welt des Landes und zu deren Grundsatzfragen geführt. Über das (intern manifest und demokratische) Partei gewesen, die ökonomische Situation und den Islam als politische Größe geht die Themenreise zur Armee, Polizei, Menschenrechtssituation, Kurdenfrage, Blutrache abseits des staatlichen Gewaltmonopols und zur (überwiegend fehlenden) Gleichberechtigung der Geschlechter. Wir erfahren auch, mit welchen Problemen ein Sexualtherapeuten Istanbul konfrontiert ist und dass die türkische Sexualmoral von Permissivität und Libertinage denkbar weit entfernt ist – das dachten wir uns aber schon immer. Der Autor bietet hier wie auf allen anderen Feldern nichts Neues, aber seine Zusammenfassung stellt sich diese Aufgabe auch nicht.

Bezüglich der Aussichten auf einen türkischen EU Beitritt kann das nicht anders sein. Solange die EU in ihrer Gesamtheit nicht genau weiß, in welche Richtung sie sich entwickelt, kann auch nicht die Frage beantwortet werden, was sie sich von einer Ausdehnung nach Kleinasien verspricht. Der Autor weist hier, über den üblich kulturell-religiösen Diskurs hinaus, deutlich auf die unruhige Nachbarschaft hin, die sich die EU vor die Schwelle ihres Hauses laden würde, wenn sie die Türkei als Mitglied aufnehmen würde: Die Gegensätze in der Kaukasus Region, die noch dazu unter türkischen Vorzeichen (gegen Armenien für Aserbaidschan) solidarisch wahrgenommen werden müssten, den islamischen Sonderfall des Iran, die internationale Dimension der Kurdenfrage, womit das ganze Chaos im Irak verbunden wäre, und das diktatoriale Regime in Syrien mit seiner Verwicklung in den Palästina Konflikt. ( Bernd Rill )

03.01.2008