Was will die EU in Kleinasien? Braucht die Türkei eine glaubwürdige Beitrittsperspektive – oder braucht nicht eher die EU eine glaubwürdige Türkeiperspektive?

 

Es ist längst ein lästiges Ritual: Wenn der alljährliche „EU Fortschrittsbericht Türkei“ veröffentlicht wird, liefern die üblichen Verdächtigen die üblichen Adjektive und Substantive ab: Wichtiger Partner, Defizite, noch nicht reif, auf dem richtigen Weg, ergebnisoffene Verhandlungen, türkisches Selbstbewusstsein, Menschenrechte, Kurdenproblem, Islamdebatte, Modernisierung, Demokratisierung.  

Jahr für Jahr produziert die EU Bürokratie diesen Bericht, hunderte Seiten stark, übersetzt in ein halbes Dutzend Sprachen. Als 2005 die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei begannen, waren sich die meisten Experten einig. Diese Verhandlungen werden lange dauern - wahrscheinlich bis 2015. Was für eine Fehlspekulation! Woran liegt es? An den chronischen türkischen Defiziten? Die Türkei brauche eine „glaubwürdige Beitrittsperspektive“ fordern die Freunde Ankaras.

Nein ! Die EU braucht eine glaubwürdige Türkeiperspektive. Die hatte sie noch nie. Was will die EU mit einem Mitglied Türkei? Noch nie hat die EU Kommission oder einer der EU – Regierungschefs, die seit 2005 mit der Türkei über einen Beitritt verhandeln, einleuchtend dargelegt, wieso eigentlich?

Dünne Argumente

2004 empfahl die EU Kommission die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen „wenn die Türkei die politischen und wirtschaftlichen Kriterien für die Verhandlungen erfüllt“. Diese „politischen Kriterien“ sind: „Institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten.” (Kopenhagener Kriterien) So weit so gut. Nun wird die EU aber Neuseeland selbst dann nicht als Mitglied aufnehmen, wenn das Land jene Kriterien zu 150% erfüllt. Wieso dann die Türkei, die geografisch ebenfalls nicht in Europa liegt – zumindest zu über 90 %.

Besonders wenig Mühe haben sich bisher die Befürworter einer türkischen EU-Mitgliedschaft gegeben. Ihre Argumente sind dünn: Nun haben wir der Türkei schon so lange die EU Mitgliedschaft versprochen, jetzt sollten wir mit ihnen darüber wenigstens verhandeln - als ob die EU ein neues Mitglied deshalb aufnimmt, um zu beweisen, dass sie Wort hält. Oder: So schlimm sind die Türken auch nicht, schaut euch doch die Fortschritte am Bosporus an! – als ob die EU jeden Staat aufnehmen sollte, der ‚nicht so schlimm’ ist. Oder: Wer jetzt die Beitrittsverhandlungen aufgibt, der hat keinen Einfluss mehr in Ankara und kann die „Demokraten in der Türkei“ nicht mehr unterstützen, der schadet genau denen, denen er eigentlich helfen will – als könne man eine demokratische Bewegung nur mit einer EU Mitgliedschaft unterstützen.

Wenn das die Argumente für die Bewilligung der Griechenland-Hilfen gewesen wären (So schlimm sind die Griechen doch auch nicht ... Nun sind sie schon so lange in der EU ...), wäre kein Euro nach Athen überwiesen worden. Da konnten die EU-Politiker sehr detailliert durchrechnen, welche Vorteile die Rettung des Euro in Griechenland für die EU hat.

Welches Sicherheitskonzept – welche Strategie?

Welche Vorteile aber hätte eine EU Mitgliedschaft der Türkei für die EU? Die Türkei ist ja jetzt schon Mitglied in der NATO, also fest eingebundener „Sicherheitspartner“. Die Türkei hat ja jetzt schon eine Zollunion mit der EU vereinbart – Waren und Dienstleistungen müssten wie mit jedem anderen EU Mitglied ausgetauscht werden können. Was will die EU noch mit der Türkei? Sicherheitspartner? Für welches Sicherheitskonzept ? Strategischer Partner? Für welche Strategie?

Zu diesen Fragen gab es bislang nicht einmal innerhalb der deutschen Regierung eine gemeinsame Auffassung. Der Aussenminister hatte dazu eine andere Meinung als die Bundeskanzlerin, und so wird das auch in der nächsten Berliner Regierung sein. Wie in Deutschland, ist es in der gesamten EU – Frankreich hat dazu eine andere Ansicht als Polen oder Schweden. Also gab es auch nie eine gemeinsame EU Initiative, um dem Beitrittspartner Türkei weiterzuhelfen, z.B. um das leidige Zypern-Problem zu lösen, oder um das Rechtssystem ein wenig in EU-Richtung zu lenken. Damit wäre heute z.B. der Demokratie-Bewegung in der Türkei zehn Mal mehr geholfen, als mit wohlfeilen Sprüchen.

Allein zum Thema „Euro“ gab es seit Ausbruch der Krise 27 EU-Gipfel. Das Thema Türkei überlassen die EU Staaten derweil der EU Bürokratie. Die spendiert ab und an ein paar Millionen für bessere Abwasserkanäle oder ein „modernes Grenzüberwachungssystem“ in der Türkei – und schreibt jedes Jahr einen Bericht mit den üblichen Adjektiven und Substantiven - ergebnisoffen natürlich, denn in diesem Bericht sollen sich alle EU Mitgliedsstaaten wiederfinden. Bald darauf werden Umfragen veröffentlicht, wonach das Interesse der Türken an einer EU-Mitgliedschaft abnimmt – und die Freunde Ankaras fordern wieder eine glaubwürdige Beitrittsperspektive. Wenn die Türkei nicht irgendwann von selbst ihren Beitrittsantrag zurückzieht, wird es dieses Ritual vielleicht noch 2030 geben. Natürlich wissen die EU Experten, was fehlt. Aber um das zu ändern, fehlt es in der Europäischen Union an einer gemeinsamen Überzeugung – wie in so vielen Fragen.