Europa gibt sein Schweigen auf und kritisiert die türkische Regierung wegen ihres brutalen Vorgehens gegen die Gezi-Demonstranten. Warum ist es der EU bislang nicht gelungen, die Türkei näher an die europäischen Werte heranzuführen ?

 

Und sie bewegt sich doch! Das europäische Parlament diskutiert die Lage in Istanbul, und kritisiert das unverhältnismässig harte Vorgehen der Polizei gegen die Demonstranten. Die Aussenbeauftragte der EU verliest eine längliche Erklärung und erinnert Ankara daran, die Türkei sei doch Beitrittskandidat für die Europäische Union sei und deshalb auch den Werten der EU verpflichtet. Der für die EU Erweiterung zuständige Kommissar Füle verschickt ebenfalls eine längliche Erklärung. Der Deutsche Bundestag hält eine Aktuelle Stunde zu den Protesten in der Türkei. Alle Fraktionen sind sich einig, dass die Gewalt ein Ende haben muss. Cem Özdemir von den GRÜNEN war einige Tage zuvor sogar selbst in Istanbul. Bundespräsident Gauck telefoniert mit seinem Amtskollegen Abdullah Gül in Ankara; der deutsche Außenminister Guido Westerwelle lässt eine offizielle Mahnung an die türkische Regierung aus Berlin verteilen, in der er vom türkischen Ministerpräsident Erdogan “(erwartet, das ser) im Geiste europäischer Werte deeskaliert”

Geht doch! – denkt man sich da. Endlich gibt Europa sein Schweigen auf , lässt die neue Bürgerbewegung am Bosporus nicht allein in den Tränengaswolken stehen.

Doch halt! Wer hat denn da das Megafon plötzlich auf ‘laut’ geschaltet? Und wieso? Das ist deshalb so auffallend, weil es solche Initiativen bisher nicht gab.

Seit 2005 spult die Europäische Union mit der Türkei ein Programm ab, als ginge es eher darum, den Beitrittsprozess zwischen 2000 Aktendeckeln langsam zu ersticken, als ihn voranzubringen. Wo waren denn die konzertierten Initiativen aus Europa in den vergangenen 8 Jahren, um die Türkei “im Geiste europäischer Werte” voranzubringen? Oder das Zypernproblem zu lösen? Plötzlich fällt der SPD im Bundestag ein, man hätte ja schon früher mal mit der Türkei über das Kapitel “Justiz” verhandeln können? Der Sprecher des sozialistischen Fraktion im Europäischen Parlament weiss dagegen: So hat die Türkei keinen Platz in Europa. Die LINKE in Deutschland will “aus Solidarität mit der Bürgerbewegung” gleich alle besonderen Beziehungen mit der Türkei abbrechen, die CDU/CSU sieht in den Vorgängen am Bosporus sowieso den Beweis, dass die Türkei nie Vollmitglied der Europäischen Union werden kann.

Ja, Kritik an der Türkei ist leicht. Gründe dazu gibt es reichlich. Berechtigte Gründe. Es stimmt, Tayyip Erdogan fragt sich nicht, was er wohl falsch gemacht hat, dass ihm plötzlich so eine wuchtige Welle der Kritik in seinem Land entgegenrollt. Genausowenig aber fragt sich die EU, was sie wohl falsch gemacht hat, dass es ihr trotz jahrzehntelanger “besonderer Beziehungen” mit der Türkei nicht gelungen ist, den “Beitrittspartner”, den “privilegierten Partner” , den “stratgischen Partner” näher an die “europäischen Werte” heranzuführen.

Solange sich Europa immer nur einig ist, wenn es darum geht, die Fehler und Mängel am Bosporus zu benennen und dabei das Megafon auf ‘laut’ zu stellen, solange ist auch das nicht viel mehr als ein organisiertes Medienereignis, das kaum ernsthaft auf eine Änderung der Verhältnisse zielt.