Der „kranke Mann am Bosporus“, die Türkei, zu gross und zu arm für Europa – das scheint lange her. Trotzdem: Die Beitrittsverhandlungen mit Ankara kommen nicht voran. Stattdessen malen Mahner eine Achse Türkei-Iran-Russland an die Wand.

 

Böser Witz am Bosporus: Jetzt steht endlich fest, wann die Türkei Mitglied der Europäischen Union wird. Im Jahre 2180. Warum? 35 Verhandlungskapitel sind während des Beitrittsprozesses zwischen Ankara und Brüssel zu bewältigen – und nach 5 Jahren ist gerade mal ein Kapitel abgeschlossen. Es wird also noch 170 Jahre weiterverhandelt.

Gar nicht witzig findet das der türkische EU-Chefunterhändler Egemen Bagis. Er nennt den Verlauf der Beitrittsverhandlungen frustierend, unfair, unhaltbar. Keiner weiss, wo das hinführt, meint der türkische Staatspräsident Abdullah Gül."Wenn ihr uns nicht wollt, dann sagt es auch, haltet uns nicht hin", soll der Regierungschef Tayyip Erdogan dem deutschen Aussenminister Guido Westerwelle kürzlich gesagt haben.

Guido Westerwelle war in diesem Jahr schon zwei Mal am Bosporus. Es ist ein auffälliger Kontrast: Je weiter sich die Perspektive einer EU Mitgliedschaft der Türkei in der Ferne verliert, je weiter Ankara deshalb auch von Europa abrückt – um so zahlreicher werden die politischen Reisen aus Europa an den Bosporus, vor allem aus Deutschland. Angela Merkel ist bekanntlich energisch gegen eine EU Mitgliedschaft der Türkei und stattdessen für eine „privilegierte Partnerschaft“ Ankaras mit Brüssel – aber auch sie sprach im März in der türkischen Hauptstadt vor. Der deutsche Innenminister war ebenfalls schon da, der Wirtschaftsminister sowieso, der Verteidigungsminister ist angekündigt, Gerade reiste der deutsche Bundespräsident 5 Tage durch die türkischen Lande – bevor Anfang November der rote Teppich für Cornelia Piper, die Staatsministerin im Auswärtigen Amt zu Berlin ausgerollt wird. Die Reisen von Parlamentariern, Ministerialräten, Staatssekretären und Parteivorsitzenden aus der deutschen Hauptstadt nach Ankara und Istanbul sind noch gar nicht erwähnt.

Anlässe und Gründe dafür gibt es genügend: Z.B. Deutschland das Einwanderungsland und die Integration der Mitbürger vor allem aus der Türkei. Jeder Verantwortliche in Deutschland weiss: Wenn ein türkischer Minister oder gar der Regierungschef (wie gerade Tayyip Erdogan oder der Staatspräsident Abdulla Gül) seine Landsleute in Deutschland aufruft, Deutsch zu lernen und nicht abseits zu stehen, dann bewirkt das mehr als 5 hochrangig besetzte und teure „Integrationskongresse“ an der Spree. Ausserdem ist Deutschland – wie andere europäische Staaten – auf mittlere Sicht auf qualifizierte Zuwanderung aus dem Ausland angewiesen.

Während konservative Parteifreunde zu Hause die hysterische Integrationsdebatte mit Sätzen wie „Keine Zuwanderung mehr!“ drapieren, legt der deutsche Bundespräsident (CDU) den Grundstein für eine deutsche Universität in Istanbul. Dort sollen die türkischen Zuwanderer der Zukunft ausgebildet werden. 5000 Studenten werden hier zu Ingenieuren und Wirtschaftsfachkräften, – unterrichtet zumeist in deutscher Sprache versteht sich.

„Der kranke Mann am Bosporus“ – scheint lange her.

Der „kranke Mann am Bosporus“, die Türkei, zu gross und zu arm für Europa – das scheint lange her. Ist es aber nicht. Noch Mitte der 90iger Jahre hatte das Land in 5 Jahren 7 verschiedene Regierungen, eine Inflation von bis zu 100 % und torkelte auf den Staatsbankrott zu. Und jetzt ? Vor kurzem zur UN Vollversammlung nach Amerika gereist, lobte der türkische Staatspräsident Abdullah Gül in einem Bostoner Hotel vor 80 Akademikern sein Land: Früher habe man die Türkei „den kranken Mann am Bosporus“ genannt. Jetzt aber sei man „das gesündeste Land“, wenn man sich die Wirtschaftszahlen der OECD anschaue. Auch wenn das vielleicht ein wenig zu stolz aufgetragen war, die Türkei macht sich auf zur Wirtschaftsmacht Nummer 16 weltweit und will nun auch einen Sitz im wichtigen Direktorium des Internationalen Währungsfonds (IWF). Die Zeiten sind vorbei, als Ankara in Brüsseler Vorzimmern um „Entwicklungshilfe“ anstand. Man will als Partner anerkannt und behandelt werden und nicht nur in Pressekonferenzen und beim Händeschütteln für die Fotografen. Und das nicht ohne Grund.

Noch (oder besser wieder ) ist Deutschland z.B. der Handelspartner Nummer eins der Türkei (ohne Energie). Dass das so bleibt ist aber alles andere als sicher. Die Türken handeln mehr und mehr mit den Chinesen, mit den arabischen Nachbarn und mit Russland – zu Lasten der EU. Die Hängepartie EU-Beitrittsverhandlungen schafft asuländische Investoren am Bosporus zusätzlich Unsicherheit. Allein aus Deutschland gibt es rund 1.500 Firmenvertretungen in der Türkei – und über 4.000 deutsch-türkische Joint-Ventures. So wandeln die deutschen Politiker durch die Hagia Sofia und lassen sich die Kacheln in der blauen Moschee erklären – währenddessen Mitglieder ihrer Delegation, Vertreter für deutsche Schnellzüge und U-Boote, mit ihren türkischen Partnern um Verkaufsverträge ringen. Bilanz: „Extrem positiv!“ meinte der deutsche Bundespräsident letzte Woche bei seiner Abreise.

Wenn sich Ankara quer legt ...

Europa blickt aber nicht nur auf den Arbeitskräfte- und Absatzmarkt Türkei. Ohne energische Mitarbeit der türkischen Sicherheitskräfte bleiben die Aussengrenzen der EU alarmierend durchlässig. Der Menschenhandel über die Türkei nach Europa habe inzwischen dem Drogenhandel den Rang abgelaufen, beklagt der deutsche Innenminister bei seinem Türkeibesuch vor wenigen Wochen. 1995 wurden in der Türkei rund 20.000 illegale Einwanderer aufgegriffen, jetzt sind bereits 60.000. Fast alle wollen weiter nach Westen. Im Schengen-Staat Griechenland wurden allein in den ersten 8 Monaten dieses Jahres 23.000 Illegale aus der Türkei festgenommen, warnt die EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström in Brüssel. Im gleichen Zeitraum letztes Jahr waren es gerade 5.600 – und das sind nur die bekannten Zahlen.

Ohne energische Mitarbeit der Türkei können auch Anschlagspläne von Terrororganisationen wie Al Kaida nicht rechtzeitig vereitelt werden. Die nutzen die Türkei immer wieder als „Ruheraum“ und Basis zu Vorbereitung und Finanzierung von Attentaten. Erst vergangene Woche nahm die türkische Polizei nach einer Razzia in fünf türkischen Städten fünf Personen fest, die für das Terror-Netzwerk Al-Qaida einen Bombenanschlag geplant haben sollen. Einer der Festgenommen habe ausserdem Computerprogramme entwickelt, um Militäranlagen lahmzulegen. In den vergangenen 12 Monaten verhafteten die türkischen Sicherheitskräfte so rund 300 Personen bei landesweiten Razzien gegen Mitglieder der Al Kaida.

„Mitarbeit“ ist auch im Nahen Osten gefragt. Ankara könnte mit seinen guten Beziehungen zur Hamas und zu Syrien dazu beitragen, dass die Friedensverhandlungen im Nahen Osten nicht wieder scheitern.

„Was aus der EU wird ist unklar – der Iran aber ist ein wichtiger Nachbar“

Legt sich Ankara quer, wird es Brüssel und Washington auch nur schwer gelingen, den Druck auf Iran aufrecht zu erhalten. Etliche türkische Firmen scharren in den Startlöchern, ob man den Wirtschaftsboykott grosser amerikanischer und europäischer Firmen nicht nutzen und in die Lücke springen könnte. Der Iran ist mittlerweile einer der 10 grössten Handelspartner der Türkei. Man fühle sich lediglich an die Boykottbeschlüsse der UN gegenüber Iran gebunden, nicht an die weitergehenden Massnahmen der USA oder der EU, heisst es in Ankara. So lädt die Türkei trotz Mahnung aus den USA eine Kampffliegerstaffel aus China zu einem Manöver ins zentralanatolische Konya ein – das Benzin für das Manöver soll von Teheran geliefert werden.

„Was aus unseren Beziehungen zu Europa wird, weiss keiner, sicher ist aber: Unsere politischen Beziehungen und der Handel mit dem Nachbarland Iran sind für uns wichtig“, soll der türkische Staatspräsident Anfang Oktober erklärt haben, so die regierungsnahe türkische Zeitung Zaman. Ausserdem: Auch deutsche Firmen hätten ihr Handelsvolumen mit dem Iran im ersten Halbjahr 2010 um 14 Prozent gesteigert gegenüber dem Vorjahr. Aus dem Iran wurden Waren für 280 Millionen Euro nach Deutschland verkauft, das war sogar ein Plus von 88 Prozent.

Immer häufiger kontroverse Themen

Die Zahl kontroverser Themen auch mit den USA nimmt zu, Ankara zeigt sich immer häufiger als sperriger Verhandlungspartner. So legt sich Ankara zunächst auch quer bei der geplante Stationierung einer NATO Raketenabwehr – vor allem gegen Iran und Syrien. Zumindest aber die Radaranlagen zur Steuerung der Raketen sollen auf türkischem Territorium stehen. Da gebe es keine Anfrage an die Türkei, schimpft der Regierungschef Tayyip Erdogan, das sei alles bereits beschlossene Sache, will sagen: Über den Kopf der Türkei weg. Ankara macht deutlich, dass die Zeiten vorbei sind, als „grosse Mächte“ einfach über sie Beschlüsse fassten.

Die Türkei will die guten Beziehungen zu ihren Nachbarn mit diesem Waffensystem nicht aufs Spiel setzen – und sie will schon gar kein Geld für Raketen ausgeben, die sie eigentlich gar nicht haben möchte. Tatsächlich sah der schlaue Plan Washingtons zunächst wohl vor, der Türkei diese Raketenabwehr für rd 4 Mrd. USD zu „verkaufen“. Der Vorschlag ist offenbar vom Tisch. Ankara weiss aber auch, dass man die Stationierung dieses Waffensystems nicht rundweg verweigern kann. So wird vor dem NATO Gipfel Ende November in Lissabon wohl vor allem noch heftig um den „Preis“ der Stationierung dieses Waffensystems gehandelt. Die Türken würden zum Beispiel gerne mitentscheiden, ob und wann Raketen gegen wen abgefeuert werden, und sie wollen auch wissen, ob auch Staaten ausserhalb der NATO (Israel) Zugriff auf das Waffensystem haben.

Die Türkei bei der Stange halten

All das sind (nur einige) Anlässe und auch Gründe, um die türkische Regierung mit hochrangigen Besuchern fester als bisher an die Hand zu nehmen, vor allem, da die EU-Beitrittsperspektive für das Land am Bosporus immer undeutlicher wird. Die Türkei – zu arm, zu gross zu islamisch für Europa ? Von wegen - der „kranke Mann am Bosporus“ ist dabei, eine Regionalmacht geworden, auf deren Kooperation der Westen zunehmend häufiger angewiesen ist. Der EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle nennt deshalb die Beziehungen zwischen Brüssel und Ankara „facettenreich“ – und er beschwor letzte Woche die Türkei, trotz aller Schwierigkeiten bei den Beitrittsverhandlungen nicht aufzugeben. Wer will schon an eine Achse Türkei – Iran - Russland – oder Türkei- Iran- China denken, selbst wenn das alles sehr theoretische Bündnis-Spiele auf der grossen Landkarte sind.

„Der Westen“ will die Türkei bei der Stange halten. Das wird nicht einfach. In wenigen Tagen wird die EU Kommission ihren jährlichen „Fortschrittsbericht“ zu den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei veröffentlichen. Wie immer werden die Diplomaten Lob und Tadel ausgewogen verteilen. Doch unter dem Strich bleibt: Allein wegen des Zypernkonfliktes werden die Beitrittsgespräche bald zum Stillstand kommen. Von den 35 sog. Verhandlungskapiteln sind allein deswegen von Brüssel und dem EU-Mitglied Zypern mehr als ein Dutzend blockiert.

Die deutsche Bundeskanzlerin will sich nun sogar persönlich auf Zypern um eine Entschärfung des türkisch-griechischen Streits um die Mittelmeerinsel kümmern. Die EU-Beitrittsverhandlungen sollen nicht aufs Abstellgleis sondern wenigstens auf die längere Zeitschiene gesetzt werden. Deshalb will Berlin auch, dass das Kapitel „Wettbewerb“ bis zum Jahresende mit Ankara eröffnet werden. Der deutsche Aussenminister nennt das, die Türkei „respektvoll behandeln“. Wer wird da „Privilegierter Partner“? Fast scheint es so, als wolle Deutschland ein privilegierter Partner der Türkei werden.