Einige EU Politiker poltern nach der Präsidentschaftswahl am Bosporus: Jetzt ist klar, die Türkei hat in der EU nichts verloren ! Aber wer braucht da eigentlich wen angesichts der Kriege im Irak und in Syrien?

Wann hat es das zum letzten Mal gegeben? Die Bevölkerung eines Landes wählt mit einer klaren Mehrheit von 52 % einen Staatspräsidenten – und Politiker in der EU verlautbaren deshalb: Dieser Staat hat nichts in der EU verloren! So jedenfalls der CSU Generalsekretär Andreas Scheuer oder der FDP-Europaparlamentarier Alexander Graf Lambsdorff, der in manchen Zeitungen gar als “führender EU Politiker” tituliert wird. Immerhin gewann er in Deutschland 3 % der Stimmen.

Welchen furchtbaren Fehler haben die türkischen Wähler begangen? Hätten sie Ekmeleddin Ihsanoglu wählen sollen, den ehemaligen Vorsitzenden der Organisation Islamische Zusammenarbeit (OIC), weil den keiner kennt und niemand weiß, was er vorhat? Oder den Kurdenpolitiker Selahattin Demirtas, der den PKK Führer Abdullah Öcalan für den unbestreitbaren Führer der Kurdenbewegung hält? Bekanntlich ist die PKK in der EU auf der Liste der Terrororganisationen.

Der türkische Wähler muss bestraft werden

Für die Schutzheiligen der Demokratie in Europa steht fest: Der türkische Wähler muss bestraft werden. Für die AFD heißt das: "Die Türken haben ihren ehemaligen Premierminister zum Präsidenten gewählt. Damit ist klar, dass sich die Türkei langsam aber sicher von Europa verabschiedet” – und die LINKE stellt die Bedingung: Wenn Ankara jetzt nicht gegen die islamische Terrororganisation IS vorgehe, müsse die EU die Beitrittsgespräche mit der Türkei beenden. Wieviele IS Mitglieder müssen die türkischen Sicherheitsbehörden festnehmen oder erschiessen, damit die EU Beitrittsgespräche weitergehen ? Oder soll die türkische Armee in Syrien einmarschieren? Oder im Irak ?

Selten gab es soviel entlarvende Reaktionen auf die Wahl eines Staatspräsidenten in einem Land, mit dem die EU Beitrittsgespräche führt.

Dabei gibt es genügend Beunruhigendes aus dem Frontstaat der zwei Kriege in Syrien und dem Irak. Nach drei Tagen ununterbrochenen Protestes der Bevölkerung der südostanatolischen Stadt Gaziantep gegen die Flüchtlinge aus Syrien lassen die türkischen Behörden 8.000 von ihnen in Lager nahe der syrischen Grenze deportieren. Die Situation wird in vielen Städten des Landes von Tag zu Tag explosiver. Etliche Syrer, die sich in der Türkei sicher wähnten, fliehen nun wieder zurück in den Bürgerkrieg in Syrien, weil sie die ständigen Anfeindungen und Übergriffe von Teilen der türkischen Bevölkerung nicht mehr ertragen. (siehe auch Artikel - Innenpolitik: “Wir wollen keine Syrer!”). Aber nach wie vor gibt es keinen Plan in Ankara: Wo sollen die 1,5 Mio Flüchtlinge wohnen, wie will man sie versorgen.

Ein Krieg – von dem keiner spricht

Der Krieg im Irak findet in den türkischen Medien praktisch nicht statt. Allenfalls erfährt man, dass die Türkei auf irakischem Territorium ein Flüchtlingslager für 1.700 Yeziden errichtet habe . Dabei geht es im Nordirak um 500.000 Flüchtlinge – und damit ist nur das aktuelle Leid der Menschen in diesem Kriegsgebiet genannt.

Über 1.200 km lang ist die Grenze der Türkei zu Syrien und Irak Beide Nachbarländer verfallen mit jedem Tag ein bisschen mehr. Kaum einer weiß noch, wer da mit wem gegen wen kämpft, wer das finanziert, wer welche Interessen vertritt. Die mittel- und langfristigen Folgen dieser Kriege liegen vollkommen im Dunkeln.

Raushalten kann sich Ankara nirgends. Die IS erpresst die Türkei mit türkischen Diplomaten und deren Mitarbeitern, die sie im Nordirak als Geiseln genommen haben. An der türkisch-syrischen Grenze installieren die Kurden, ein Ableger der PKK, Zug um Zug ein eigenes Herrschaftsgebiet. Sie kämpfen mittlerweile sogar auch auf türkischem Territorium gegen die IS.

Um die Kurden im Norden Syriens in Schach zu halten, hatte sich Ankara mit den Kurden Barzanis im Nordirak verständigt. Auch für Barzani war die PKK bislang ein eher lästiger Faktor in der Region. Doch über Nacht nun wurde die PKK zum Verbündeten Barzanis. Zum ersten Mal zeigt er sich vor Pressefotografen, wie er PKK Kommandanten die Hand reicht. Immerhin hatten die Einheiten der PKK Barzani vor einer schweren Niederlage gegen die IS im Nordirak bewahrt. Abdullah Öcalan liess schon Ende Juli von seiner Gefängniszelle aus erklären: Die PKK werde die IS bis zum letzten Atemzug bekämpfen.

Kommt jetzt der Kurdenstaat ?

Zum ersten Mal scheinen sich die Kurden vom Irak bis nach Syrien einig. Gründen die jetzt einen Kurdenstaat? Mitnichten! Das war immer ihr Ziel – und ist es noch. Aber sie sind in den letzten Jahrzehnten realistisch geworden und wissen: Eine aktuelle Frage ist das nicht.

Die Regierung in Bagdad, mit der Ankara übrigens herzlich verfeindet war, ist bekanntlich auch gestürzt. Unklar ist, was die neue Regierung will oder kann? Und was wollen die USA? Offiziell hält Washington nach wie vor an der Vision eines einigen Irak fest – aber was wollte Amerika nicht schon alles in den letzten 15 Jahren im Irak. Wird Amerika nun auch die PKK bewaffnen ? Und was will Teheran? Verhandeln die USA mit dem Iran über all diese Kriege? Und wird dabei vielleicht sogar Ankara ausgebootet ? Dort blickt man auf jeden Fall mit Misstrauen auf die Annäherung zwischen Washington und Teheran.

Eines ist sicher: Ohne Mitwirkung Ankaras wird das aktuelle menschliche Leid der Flüchtlinge in diesem Kriegsgebiet nicht gelindert werden können. Ohne Mitwirkung Ankaras wird es auch keine dauerhafte Verständigung mit einer Gruppe, einem Stamm, einer Miliz oder politischen Kraft in dieser Region geben können.

Was geht ohne Ankara ?

Gerade deshalb ist es so beunruhigend, dass sich die türkische Politik in den Medien zur Zeit ausschließlich mit innenpolitischen Kapriolen befasst, als gelte es fünf Sommerlöcher zu stopfen.Es scheint, als laviere sich Ankara von Tag zu Tag durch, ohne Plan zu all diesen drängenden Fragen – und meist auch ohne Partner.

 Gerade deshalb entlarven die Eingangs genannten Reaktionen aus Deutschland bzw. Europa, wie beschränkt der Horizont manches “führenden Politikers” sein kann. Wer westlich von Istanbul ein wenig über die Bierdeckel seines Stammtisches hinausblickt, wird sich darum bemühen, Ankara für eine gemeinsame Politik zu gewinnen, statt die Regierung ohne Not vor den Kopf zu stoßen. Denn Europa kann es sich gerade jetzt nicht leisten, von der Türkei zu verabschieden.

Denn sollte auch nur das Flüchtlingsproblem am Bosporus der Regierung in Ankara demnächst um die Ohren fliegen, dann wird sich die EU auf eine kleine Völkerwanderung aus der Region gefasst machen müssen. Dabei wäre es einfach, zumindest im ersten Schritt, der Türkei bei der Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge mehr zu helfen als bisher. Das ware auf jeden Fall einfacher, als zu entscheiden, wer wem welche Waffen in die Region liefern darf. Aber so vielen Flüchtlingen zu helfen kostet Geld, viel mehr Geld als der medienwirksame Besuch eines Politikers in einem Flüchtlingslager.