Ist die Türkei ein Schlüsselland zur Lösung der Flüchtlingskrise? Wird jetzt gehandelt – oder werden nur eifrig Scherben zusammengekehrt?

Das Magazin The Week zeigt auf seiner Titelseite den türkischen Staatspräsidenten Tayyip Erdogan, der sich wie ein Pharao ein Denkmal meisselt – während Angela Merkel klein und verschüchtert eine Tasche voller Geld für Erdogan heranschleift. Überschrift: All Eyes on Turkey ( Alle blicken auf die Türkei ). Keine Satiresendung kommt dieser Tage ohne einen Seitenhieb auf Erdogan (Sultan auf geschmacklosen Prunksesseln) und Merkel ( Bittstellerin und Wahlkampfhelferin für einen autoritären Staatschef ) aus. Zur gleichen Zeit sagte jeder Politiker, der in Berlin auch nur in einem Nebensatz zur Außenpolitik befragt wird: Die Türkei sei ein Schlüsselland im Kampf gegen den IS, ein Schlüsselland für ein Ende des Bürgerkrieges in Syrien und für die Lösung der Flüchtlingskrise.


Immerhin hat die EU der Türkei inzwischen einen „Aktionsplan" vorgelegt ( EU-Turkey Joint Action Plan). Wird jetzt nicht mehr nur geredet, sondern gehandelt?


Der Plan sieht vor: Die EU gibt Ankara Geld, wenn nötig viel Geld (mehr als 3 Mrd Euro), die EU schickt Hilfspersonal, gerne auch Grenztruppen, dazu wenn nötig Ausrüstung für den (Aus)Bau von Flüchtlingscamps, und hilft der Türkei bei der Abschiebung von Flüchtlingen. Die EU ist außerdem bereit, die Türkei partnerschaftlicher als bisher zu behandeln. Sie will Ankara z.B. auch bei der Sicherung der EU Außengrenzen mit einbeziehen und ist bereit, ernsthaft über Visa-Erleichterungen für türkische Staatsbürger zu sprechen. Nachgeschoben hat die EU Kommission an diesem Wochenende: Sie wolle die Verhandlungen über den türkischen EU Beitritt beschleunigen (beschleunigen ? !!) Als quasi vertrauensbildende Maßnahme hat sie die Veröffentlichung eines anscheinend besonders kritischen „Fortschrittsberichtes" über die Beitrittsverhandlungen mit Ankara erst einmal auf Eis gelegt. Bekanntlich werden diese jährlichen „Fortschrittsberichte" immer Anfang-Mitte Oktober vorgelegt.


Und was tut die Türkei? Im Gegenzug soll Ankara alle Flüchtlinge, die türkische Staatsgebiet betreten, ordentlich registrieren (bislang hat sie wohl gerade mal 15 bis 20 % registriert); den Flüchtlingen einen Flüchtlingsstatus zuerkennen, sie besser behandeln, gegen Menschenhandel, Menschenschmuggel, Schlepper und illegale Grenzübertritte besser vorgehen als bisher, mit Europol zusammenarbeiten und mit der EU beim Austausch von Informationen „über Personen" operativ besser zusammenarbeiten. Das ist wohl absichtlich so allgemein formuliert.


So weit so gut – wenn da nicht der Eindruck bliebe, es werden jetzt eifrig Scherben zusammengekehrt.


Wer kann denn heute noch ohne nachzuschauen sagen, wann die Verhandlungen der EU mit der Türkei über einen Beitritt begonnen haben? (2005). Seither wurde ein (!) Verhandlungskapitel von 35 abgeschlossen. Ja es stimmt, in der Zwischenzeit hat sich die Türkei auch nicht viel demokratischer entwickelt als Ungarn. Aber lag es nur daran?


Tatsächlich weiß die EU seit Jahr und Tag nicht, was sie mit der Türkei eigentlich will, wozu sie das Land am Bosporus braucht? Deshalb sehen alle aktuellen Avancen aus Brüssel (oder Berlin) so unglaubwürdig aus – und interessieren am Bosporus auch nur noch wenige. In den rund 40 namhaften Blättern und Webzeitungen gab es bislang dazu gerade mal 3 Kommentare, einschließlich des Besuchs der deutschen Bundeskanzlerin. Die Wahlen in der Türkei am kommenden Wochenende wird dieser Besuch bestimmt nicht beeinflussen. Brüssel verspricht ernsthafte Beitrittsverhandlungen, glaubt aber selbst nicht daran – Tayyip Erdogan nickt dazu und glaubt genauso wenig daran – und dann versprechen sich bei, dass man ehrlich miteinander umgehen werde.


Oder die Flüchtlingskrise: Die Hohe Vertreterin für die EU Aussen- und Sicherheitspolitik hat 4.000 Mitarbeiter, das Auswärtige Amt in Berlin beschäftigt mehr als 11.000 Mitarbeiter. Auch die haben vor zwei Jahren die unzähligen Zeitungsartikel gelesen, in denen stand: Die syrischen Flüchtlinge werden sich nach Westen aufmachen, wenn den Ländern wie dem Libanon, Jordanien oder der Türkei nicht sofort (!) geholfen wird. Dann wurden darüber  Berichte geschrieben – und in dicken Aktenschränken abgelegt, und die Budgets für die Flüchtlingshilfe gekürzt. Jetzt sind die Flüchtlinge da - und alle sagen, dass man Ländern wie dem Libanon, Jordanien oder der Türkei sofort helfen müsse, wenn nötig auch mit viel Geld. Aber wann wird es diese Hilfe geben? Und was ist mit den Flüchtlingen, die schon unterwegs sind? Allein darüber droht die EU zu zerbrechen.


Der Aufstieg des IS war absehbar genauso wie der furchtbare Verlauf des Bürgerkrieges in Syrien. Ja, ganz schlimm – aber da kann man halt nichts machen, war die Reaktion von Washington bis Berlin. Jetzt, 200.000 Tote und 4 Millionen Flüchtlinge später, fällt der Konflikt mit scharfen Kanten dem Westen auf die Füße. Jetzt sagt der deutschen Außenminister Frank Walter Steinmeier: Die syrische Tragödie könnte schlimmer nicht sein. Es ist nicht nur die politische sondern auch die moralische Pflicht, das Töten zu beenden (20.9.) Jetzt gibt es Gespräche mit Putin, mit den Ayatollahs in Iran, den Scheichs in Saudi-Arabien und der Türkei – und vielleicht auch bald mit Assad.

 

Welchen Schlüssel für die Lösung des Bürgerkrieges in Syrien soll Ankara in der Tasche haben – wenn es bislang nicht einmal einen Plan gab, wie es dort zu einem Waffenstillstand kommen soll, geschweige denn zu einem Frieden?


Welchen Schlüssel für einen Sieg über den IS soll Ankara in der Tasche haben – wenn selbst die USA alle paar Monate mal etwas ausprobieren, von dem sie noch kurz zuvor sagte: Das machen wir niemals! – so jetzt z.B.: Der Einsatz von Spezialkräften am Boden bei besonderen Operationen. Sicher gab es auch am Bosporus wuchtige Versäumnisse, Fehler und vielleicht auch Illusionen, was den Umgang mit dem IS angeht. Aber auch hier stinkt der Fisch zuerst am Kopf . Das ist übrigens ein türkisches Sprichwort.


Die jetzige Krise zeigt leider sehr deutlich: Das entscheidende Problem ist, dass in der „westlichen Außenpolitik" keiner vorausschaut. Es gibt vor allem in der EU kaum längerfristige Konzepte, gemeinsame schon gar nicht. Außenpolitik wird nicht gestaltet, sondern verwaltet, bislang zumeist mit Blick nach Washington. Anders konnte man auch die Wahl der in der Außenpolitik unerfahrenen Italienerin Federica Mogherini zur Hohen Vertreterin der EU nicht verstehen. Einzig bei den Atomverhandlungen mit dem Iran ist es den USA gemeinsam mit der EU gelungen, ein Konzept durchzusetzen, das zumindest für die nächsten 15 Jahre einen Krieg verhindern könnte. Manche hoffen ja, dass solche Krisen wie die Flüchtlingskrise den Strategen in der EU mehr Gewicht verschaffen könnte. Sicher ist das aber nicht.