Lässt sich die EU in der Flüchtlingsfrage von der Türkei erpressen? Wieso erscheint eine Verständigung über die Flüchtlingskrise so schwierig?
Reiben sich die Türken jetzt die Hände? Knufft der türkische Staatspräsident Tayyip Erdogan seinem Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu schadenfroh in die Seite: ‚Was haben wir die Europäische Union dieses Mal an einem Nasenring durch Brüssel geführt!’ Die Kommentare und Talkrunden in Deutschland jedenfalls tragen schwarz bis zornesrot: Die deutsche Bundeskanzlerin als Bittstellerin beim Diktator. Spielen die Türken mit uns? Lässt sich die EU erpressen? Welchen Preis muss die EU der Türkei für ein Flüchtlingsabkommen bezahlen? Kann die Türkei jetzt alles mit Europa machen?
Wer vom Bosporus aus nach Brüssel blickt scheint in einer ganz anderen Welt. Von Häme keine Spur. Der EU Gipfel ist nicht einmal das Thema Nummer eins. Das Land ist mit anderen Sorgen beschäftigt. Die Stimmung ist schlecht. Semih Idiz von der Tageszeitung Hürriyet sieht das Land in einer Spirale, die sich immer rascher abwärts dreht. Der Krieg im Südosten der Türkei gegen die PKK; die Terroranschläge in den Städten im Westen; die zunehmende außenpolitische Isolierung des Landes; der rapide Zerfall der Gesellschaft in religiöse, ethnische und politische Gruppen, die Tag für Tag hasserfüllter aufeinander losgehen; die wachsende Kriminalität. Vereinzelt bringen Geschäftsleute ihr Vermögen inzwischen sogar ins Ausland, man wisse ja nicht, was noch alles passiert. (siehe auch Artikel (Innenpolitik): Am Abgrund)
Und schließlich die große Zahl der Flüchtlinge ! Erst da treffen sich die west-östlichen Debatten. Der türkischen Wirtschaft geht es nicht gut – aber der Staat müsse gerade jetzt immer mehr Geld für Flüchtlinge ausgeben, statt für die eigenen Bürger. Darüber wird auch am Bosporus geklagt. Von Jubel über einen künftigen Geldregen aus Europa - keine Spur. Tatsächlich sind 6 Mrd Euro Flüchtlingshilfe für zwei Jahre nicht viel. Laut einer Statistik der Stadt Hamm (in Westfalen, bei Dortmund) gab die Gemeinde (2015) für jeden Flüchtling im Jahr rund 12.000 Euro aus. Für eine Million Flüchtlinge wären das 24 Mrd Euro in zwei Jahren. Bekanntlich leben zur Zeit bald 3 Millionen Flüchtlinge am Bosporus – und dabei wird es wohl nicht bleiben. Außerdem hat das Land seit vier Jahren syrische Flüchtlinge versorgt, während in Europa die Budgets für Flüchtlingshilfe gekürzt wurden. Für Ankara gab es höchstens ein Schulterklopfen.
Überraschend war die Forderung nach 6 Mrd Euro Flüchtlingshilfe an die EU keineswegs, meint der Kommentator Murat Yetkin von der Tageszeitung Radikal. Es sei im übrigen gar keine Forderung aus Ankara gewesen. Die Grundzüge dieses Plans, auch die vorzeitige Visafreiheit für türkische Staatsbürger und die Wiederaufnahme der Beitrittsverhandlungen stammten nicht von Ankara, sondern von Angela Merkel. Darüber sei bereits bei ihrem Besuch am 18. Oktober letzten Jahres in Istanbul gesprochen worden. Offenbar sei es ihr aber in den vergangenen vier Monaten nicht gelungen, alle EU Partner von diesen Eckpunkten zu überzeugen. Nicht einmal die 3 Mrd Euro Flüchtlingshilfe für Ankara, die alle EU Staaten Ende November letzten Jahres beschlossen hatten, wurden ja bislang überwiesen.
Tatsächlich klingt die Kritik aus den Reihen der Europäischen Union wie „Haltet den Dieb!“ Die Flüchtlingskrise zeigt vor allem Probleme der EU, weniger die der Türkei. Ankara ist ja deshalb ein „Schlüsselland“ für die Lösung der Flüchtlingsfrage, weil die EU Staaten jede Woche ein Stück mehr gemeinsames Handeln aufgeben. Das Misstrauen untereinander wächst. Immer seltener werden sogar einstimmig gefasste Beschlüsse einfach ignoriert. Einzelne Länder wie Griechenland werden im Stich gelassen.
Die Zusage der Länder an der sog. Balkanroute an Griechenland, die Grenzen bis zum Türkei-EU Gipfel offen zu lassen, wurde sofort gekippt. Jetzt sitzen in Griechenland bald 100.000 tsd Flüchtlinge fest. Allein an der mazedonischen Grenze versinken bald 15.000 im Schlamm. Außer der gebetsmühlenartigen Wiederholung, die EU ‚habe beschlossen...’, Unterstützung zugesagt ...’, ‚werde Gelder bereitstellen...’ - Hilfe ist derzeit nicht einmal bei der Versorgung der Flüchtlinge vor den Stacheldrahtzäunen in Sicht. Dabei hat fast jeder Staat der EU eine Krisentruppe, die z.B. bei Erdbeben in wenigen Stunden in Katastrophengebieten selbst am anderen Ende der Welt einsatzbereit sind. Einige Diplomaten meinen unter der Hand sogar, solche Bilder seien wahrscheinlich erwünscht, um alle abzuschrecken, die sich auf den Weg nach Europa machen wollen. Gerechtfertigt ist die Kritik in Sachen Menschenrechte an der Türkei allemal. Aber ist sie unter diesen Umständen auch glaubwürdig ?
Besondere Beachtung am Bosporus findet einzig das visafreie Reisen für türkische Staatsbürger in den Schengen-Raum. Vor allem die Meinungsmacher in Wirtschaft und Medien haben sich schon oft wütend geärgert, dass sie für einen Wochenendtrip nach Europa rund zwei dutzend Dokumente zusammentragen und beglaubigen müssen, von einem Termin zum nächsten Rendezvous getrieben werden, während jeder aus Albanien seit mehr als 5 Jahren visafrei in den Schengen-Raum reisen kann.
Zwar hat die EU Kommission der Türkei ein 10-seitiges Papier vorgelegt, wonach 72 Kriterien erfüllt sein müssen, damit visafreies Reisen in den Schengen-Raum möglich ist. Wie soll das gehen - bis Juni? Es gibt nicht einmal ein Asylrecht in der Türkei, das den Namen verdient. Kein Problem, hört man vom Bosporus. Europa habe auch schon Staaten als Mitglied aufgenommen, die längst nicht alle Aufnahmekriterien erfüllt hatten. Es gebe nur ein Kriterium, das die Türkei wirklich erfüllen muss, da sind sich die türkischen Kommentatoren einig: Es darf kein Flüchtling mehr von türkischem Territorium aus Richtung EU gelangen. So blamable kann die Beschreibung des „Wertesystems“ der EU sein.
Vor Millionen visafreier Reisender aus der Türkei muss sich zunächst übrigens keiner fürchten. Gerade mal 10 % der türkischen Staatsbürger besitzen einen Reisepass, und selbst diese Pässe müssten gegen Ausweise mit zusätzlichen Daten und Sicherheitsmerkmalen versehen werden.
Griechenland will die Türkei als „sicheres Drittland“ für Flüchtlinge anerkennen. Die EU muss ihr folgen, selbst wenn zur Zeit auch rund 400.000 türkische Staatsbürger im eigenen Land auf der Flucht, vor dem Krieg zwischen der Armee und der PKK. Mit einer Rücknahme aller Flüchtlinge durch Ankara wird auch das Recht aller nicht-syrischen Flüchtlinge beseitigt, einen Asylantrag in der EU zu stellen. Die UN und die Menschenrechtsorganisationen warnen: Es gibt bislang in der Türkei kein Asylrecht nach EU Standards. Trotzdem meint der EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker: „Das ist rechtlich machbar“. Dafür würden jetzt „Details“ ausgearbeitet.
Zu den Details gehört auch, wer die Rückführung der Flüchtlinge in die Türkei wie organisiert und bezahlt, wie der Datenaustausch zwischen der EU und der Türkei funktionieren soll, welches Land in der EU die Flüchtlinge aus der Türkei eigentlich aufnehmen wird, wie Zypern oder Frankreich überzeugt werden, die Blockade der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufzugeben, wie sichergestellt werden kann, dass die EU sich endlich wieder an ihre eigenen Beschlüsse hält - usw usw
Die Türkei ist ein schwieriger Partner – doch wenn es um eine Verständigung in der Flüchtlingskrise geht, hat zweifellos die EU die größeren Schwierigkeiten, vor allem mit sich selbst.