Jetzt ist die lang erwartete Nachricht da: Die Flüchtlingszahlen gehen drastisch zurück. Wie das erreicht wurde, wird selten gefragt. Stattdessen interessieren sich alle, ob die Türkei dafür der richtige Partner ist.

 

Immer, wenn es richtig dicke kommt, sagen die türkischen Politiker: Das ist ein Komplott aus dem Ausland. Bekanntlich waren die Gezi-Proteste aus dem Ausland organisiert. Der türkische Staatspräsident Tayyip Erdogan entlarvte Anfang 2015 in den sozialen Medien eine „Roboterlobby“, die gegen ihn zu Felde zog. Die Wikileaks Enthüllungen über undiplomatische Rüpeleien türkischer Politiker auf internationalem Parkett waren ein Komplott Israels und der USA. Der Chef des Bauernverbandes im zentralanatolischen Nevsehir erklärte einst sogar die Vogelgrippe für ein Komplott der EU gegen die erfolgreiche Landwirtschaft der Türkei.

Jetzt haben die regierungsnahen Medien am Bosporus eine Schmäh-Verschwörung aufgedeckt. Ununterbrochen hagele es aus dem Ausland ungerechtfertigte Kritik an der türkischen Regierung bis hin zu wüsten Beleidigungen im deutschen Fernsehen (Böhmermann). Tatsächlich wird - seit die EU mit Ankara über ein Flüchtlingsabkommen verhandelte - vor allem darüber gesprochen, ob man mit einem Land wie der Türkei überhaupt solch ein Abkommen aushandeln darf. Wie furchtbar ist die Regierung in Ankara? Kann eine Regierung mit einem Staatspräsidenten wie Tayyip Erdogan überhaupt ein verlässlicher Partner der EU sein?

Der „Deutschlandtrend“ gab dieser Tage darauf die Antwort: 79 % sagen nein. Keine Frage, es gibt genug zu debattieren über die Innen- und Außenpolitik der Türkei. Auffällig ist aber: Hinter dem plötzliche wieder geschärften Interesse an der Demokratie, der Meinungsfreiheit am Bosporus wird der Blick auf die „europäische Lösung“ in der Flüchtlingsfrage immer unschärfer.

Der deutsche Innenminister feiert den Rückgang der Flüchtlingszahlen, gibt aber zu, das sei vor allem das Ergebnis der „nationalen Maßnahmen“(Schließung der Balkanroute). Die deutsche Bundeskanzlerin, die monatelang jede „Obergrenze“ in der Aufnahme von Flüchtlingen ablehnte, hat genau so eine Obergrenze mit der Türkei vereinbart. Europa nimmt nach dem EU-Türkei Abkommen im Jahr höchstens 72.000 Flüchtlinge aus der Türkei auf. Griechenland, in das deutsche Gerichte keine Flüchtlinge abschieben, weil Athen ihnen keine menschenwürdige Behandlung garantieren kann – dieses Griechenland darf nun seinerseits aber die Türkei zum „sicheren Drittland“ für Flüchtlinge erklären.

Griechenland wartet derweil auf Hilfe aus der EU, denn das Land soll 50.000 Flüchtlinge versorgen und über ihren Status entscheiden. Ab sofort sollen auch deutsche Juristen/Innen in Asylfragen auf griechischen Inseln nach griechischem Recht urteilen, ob ein Flüchtling aus der Türkei anerkannt wird. Dann wird er mit diesem Stempel in die Türkei zurückgeschickt - und für ihn darf ein anderer Flüchtling aus einem türkischen Lager in die EU. Für Griechenland wurde so faktisch das Asylrecht abgeschafft. Die „europäische Lösung“ sieht stattdessen vor: Nur wenn ein Flüchtling sich auf eine lebensgefährliche Bootsfahrt über die Ägäis gewagt hatte, darf ein Flüchtling aus Syrien sicher in die EU einreisen. Abgeschafft wurde damit faktisch auch das Asylrecht für Flüchtlinge aus Irak, Afghanistan und anderen Ländern, die in der Türkei vor den Grenzen der EU stehen.

Solch eine Vereinbarung werde man wohl auch mit den nordafrikanischen Staaten schließen, um den Flüchtlingen (gesagt wird: Den Schleppern) „Ausweichrouten“ unmöglich zu machen, meint der deutsche Außenminister. Jeder Flüchtling, der nicht auf diesem Weg in die EU kommt, ist ab sofort ein „illegaler Migrant“, ein Begriff, der bislang als absurd galt.

Im übrigen tut jeder EU Staat weiter, was er will. Bulgarien wird einen Zaun zur Türkei bauen, Österreich das Militär an den Brenner schicken, Ungarn, die Tschechische Republik, die Slowakei oder Polen werden sich weiter weigern, die EU Beschlüsse in Sachen Aufnahme eines Flüchtlingskontingents umzusetzen. Es ist noch nicht einmal klar, ob die EU Staaten die 6 Milliarden Euro vereinbarte Flüchtlingshilfe für Ankara je bezahlen werden, denn immer häufiger einigen sich die Regierungschefs der Europäischen Union auf ein Vorgehen, um das sich nachher kaum einer mehr kümmert.


Unter dem Diktat: Keine Flüchtlinge mehr ! droht Europa Stück für Stück auseinanderzubröseln. Das Abkommen mit der Türkei war vor allem nötig, weil es keine europäische Lösung in der Flüchtlingsfrage gibt. Aber statt zu fragen, wie Europa wieder zusammengeführt werden könnte, welche Europa-Politik richtig wäre, wird das Publikum mit dem Thema unterhalten, ob die Merkelsche Türkei-Politik richtig ist. Was Satire eigentlich darf ist dann auch ein trefflich unterhaltsames Thema. Dabei kann jeder aus den unzähligen vorangegangenen Debatten zu diesem Problem wissen: Wer sich daran beteiligt, redet über nichts anderes als die Frage, wann Zensur sein soll.


Außerdem hat die Frage, was Satire darf, schon vor einiger Zeit die islamistische türkische Zeitung „Vakit“ erschöpfend beantwortet. Ihr Zeichner Kemal Güler kritzelte damals Angela Merkel mit Hitler-Bärtchen und Vampirzähnen, in der Hand schwenkt sie eine blutige Hakenkreuzfahne „Türken raus!“ und unter der Zeichnung stand: Der zweite Hitler!