Die Geiseln sind frei – aber das Sicherheitsproblem der Türkei ist heute größer als noch letzte Woche. Bleibt Ankara bei seiner „passiven Partnerschaft“ im Kampf gegen die IS?

Die gute Nachricht hatte sich schnell herumgesprochen: Die 49 türkischen Geiseln, mit denen die IS Ankara erpresst hatte, sind frei. Offenbar war es keine ‚militärische’ Befreiungsaktion, sondern das Ergebnis von Verhandlungen zwischen dem türkischen Geheimdienst MIT und den Geiselnehmern. Worüber verhandelt wurde, weiß die Öffentlichkeit nicht.

Geld sei keines bezahlt worden, erklärt die Regierung – aber das erklären alle Regierungen nach einer erfolgreichen Geiselbefreiung. Wenn aber nicht gegen Geld, wogegen wurden die Geiseln dann ausgetauscht? Es ist unwahrscheinlich, dass die IS nur vor dem drohenden Zeigefinger aus Ankara Angst bekommen hat.

Hinter dieser Frage verschwindet am Bosporus beinahe die schlechte Nachricht: Knapp 50 Tausend Flüchtlinge aus dem Norden Syriens haben sich nach einer Offensive der IS in die Türkei gerettet. Der Versuch Ankaras, sie auf syrischem Territorium zu halten, ist gescheitert. Gescheitert ist damit auch der Versuch, den Grenzverkehr zwischen Syrien und der Türkei zu kontrollieren. Wie viele IS Anhänger die letzten Tage die Grenze zwischen Syrien und der Türkei passiert haben und mit welchem Gepäck, ist also unbekannt. Bislang hatte Ankara immer wieder darauf verwiesen, von den 13 Grenzübergängen nach Syrien seien mittlerweile alle außer dreien geschlossen. Die fast 900 km lange „grüne Grenze“ blieb allerdings unerwähnt.

Die Türkei sei das größte Rekrutierungsgebiet der IS, berichtete kürzlich die New York Times – und alle regierungskritischen Zeitungen am Bosporus druckten das nach. IS Rekrutierungsbüros gebe es in 15 Städten der Türkei wie in Istanbul, in Ankara oder Konya. 1.000 Türken kämpften inzwischen unter der Schwarzen Flagge der IS. Woher diese Zahlen stammen, ist nicht bekannt. Es ist die Zeit hitziger Propagandaschlachten am Bosporus, denn keiner weiß etwas Genaues, aber alle haben was gehört.

Greifbar ist zumindest ein Abgeordneter der Oppositionspartei CHP aus Konya, der belegen will, dass sich letzte Woche allein in 2 Tagen 53 türkische Familien der IS angeschlossen hätten. Er wollte dazu dem neuen Regierungschef Ahmet Davutoglu einen Bericht übergeben – aber der habe ein vereinbartes Treffen kurzfristig abgesagt. Das Oppositionsblatt Today’s Zaman zitiert den Vater eines türkischen IS Kämpfers, Vakkas Dogan. Der habe mehrmals die Behörden gebeten, sie sollten verhindern, dass sein Sohn die Grenze nach Syrien passiert. Man habe ihm aber gesagt, da könne man nichts tun.

Andere Zeitungen, wie das Blatt „Taraf“, wissen von mehreren IS Führungskadern, die in türkischen Krankenhäusern nahe der syrischen Grenze „auf Staatskosten“ behandelt würden.

Natürlich weist die türkische Regierung solche Berichte als schamlose Propaganda zurück, allen voran Staatspräsident Tayyip Erdogan, Tatsächlich werden alle verletzen Flüchtlinge aus Syrien in türkischen Krankenhäusern auf Staatskosten behandelt, natürlich auch solche mit Schusswunden. Dass sich darunter auch IS Kämpfer finden, kann aber niemand am Bosporus ausschliessen.

Niederträchtig nennt Erdogan vor allem Berichte, die IS schmuggle Öl aus Syrien auch über türkisches Staatsgebiet und fülle damit ihre Kriegskasse. Danach verkauft die IS Öl aus eroberten Gebieten zu 40 USD das Barrel an Schmugglerbanden, die sonst bis zu 55 USD für das Barrel bezahlen müssten. Dass dies auch der amerikanische Außenminister John Kerry letzten Mittwoch (18.09.) vor dem Auswärtigen Ausschuss des US-Senats anmerkte, erwähnt Erdogan nicht. Schon im Kampf gegen die PKK hatten Polizei und Gendarmerie nie ganz die Kontrolle über das riesige Gebiet im Südosten der Türkei. Dazu kommt: Wichtige Einheiten der Sicherheitsorgane der Türkei wurden durch die Versetzung und Verhaftung hunderter Polizeioffiziere in den vergangenen Wochen neu strukturiert. (siehe auch Artikel: Polizisten in Handschellen ) Außerdem hat die Regierung in Ankara vor wenigen Tagen auch noch 16 Gouverneure im Land ausgewechselt.

Immerhin: Nach und nach sprechen auch die Politiker in Ankara offen darüber, welch wuchtiges Sicherheitsproblem die offene Grenze zu Syrien und das unübersehbare Flüchtlingsdrama dieses Krieges mit sich bringt.

Die Befürchtung geht um, die sensible Infrastruktur des Landes könnte während des Krieges gegen IS das Ziel von Anschlägen werden. Gemeint sind damit die Brücken über den Bosporus, Staudämme, Pipeline, das im Bau befindliche Atomkraftwerk uä. Die türkische Presse zitiert einen neuen Bericht des türkischen Geheimdienstes. Darin sei von 22 Lastkraftwagen in der Türkei die Rede, die mit Sprengstoff beladen seien und von 33 Selbstmordattentätern der IS in der Türkei. Selbst wenn auch dies nur Teil der Propagandaschlacht sein sollte, die Gefahr ist real. Die Türkei ist nicht nur wirtschaftlich vom Krieg an ihren Grenzen besonders betroffen, auch die Sicherheit des Landes ist akut in Gefahr.

Kurz: Die Türkei kann es sich gar nicht aussuchen, ob sie sich am Kampf gegen die IS beteiligt oder nicht. Sie steckt schon mitten drin. Nun bringt Tayyip Erdogan wieder den Gedanken an eine Pufferzone im türkisch-syrischen Grenzgebiet ins Gespräch. Auf seinem Rückflug von einem Staatsbesuch in Katar vor wenigen Tagen erklärt er Journalisten, die Armee arbeite an einem entsprechenden Plan. Ohne den Einsatz von Bodentruppen aber sei der IS nicht beizukommen. Schon vor zwei Jahren wollte seine Regierung eine solche Pufferzone und Non-Fly-Zone mit Hilfe der Patriot-Raketen der NATO, die in der Türkei stationiert sind, durchsetzen. Klar ist, ohne massive Sicherung der türkisch-syrischen Grenze wird der Krieg gegen die IS immer tiefer in die Türkei getragen. Es wird wohl nicht mehr lange dauern, bis Ankara seine „passive Partnerschaft“ im Kampf gegen die IS neu formuliert.