Warum der Kurswechsel Ankaras im Kampf gegen den IS ? Nicht wegen des furchtbaren Terroranschlages vor wenigen Tagen im türkischen Suruc. Warum sonst ?

 


Ein radikaler Kurswechsel in Ankara – und der Grund dafür war so einleuchtend: Die Terrororganisation IS begeht einen schrecklichen Bombenanschlag – mehr als 30 Menschen sterben, Hunderte werden verletzt. Das hat in Ankara endlich auch den letzten Zauderer belehrt, seine Zurückhaltung im Kampf gegen den IS zu überdenken. Jetzt schlägt die türkische Staatsmacht mit allen Mitteln zurück.


Einige aber zweifeln an dieser so schlüssigen Erklärung. Tatsächlich hatten sich Ankara und Washington schon Tage vor dem Attentat des IS über den Kurswechsel der Türkei im Kampf gegen den IS geeinigt. Ein seit Jahrzehnten ausgewiesener Kenner der türkischen Politik, Cengiz Candar, weist heute noch ein Mal darauf hin, Ankara und Washington hätten sich schon am 18. Juli über die engere Zusammenarbeit im Kampf gegen den IS verständigt. Der Selbstmordattentäter des IS zündete seine Bombe im Südosten der Türkei aber erst zwei Tage später, am 20. Juli.


Schon Anfang Juli hatte die ihre Truppen an der syrischen Grenze in beträchtlichem Umfang verstärkt. Zur gleichen Zeit (6. Juli) war der persönliche Koordinator des amerikanischen Präsidenten im Kampf gegen den IS, General John Allen mit einer Delegation in Ankara. Man bespreche, wie die türkische Airbase Incirlik von den US Streitkräften im Kampf gegen den IS genutzt werden könne. Schon am 9. Juli war türkischen Medien zu entnehmen, Ankara habe den USA erlaubt, zwei Drohnen auf Incirlik zu „stationieren", was auch bedeutet: Sie von dort aus einzusetzen. Außerdem wollten die US-Militärs Zugang zu den türkischen Garnisonen in Diyarbakir und Batman, nahe der syrischen Grenze. Man wolle dort die Einsätze von Incirlik aus „logistisch unterstützen". Eine gute Woche später, am 18. Juli, hätten sich der Staatssekretär im türkischen Außenministerium mit General Allen endgültig über die engere Zusammenarbeit im Kampf gegen den IS verständigt, so Cengiz Candar.


Erst zwei Tage darauf explodierte die Bombe des IS Selbstmordattentäters im türkischen Suruc. Der türkische Kurswechsel muss also andere Gründe haben. Tatsächlich haben sich die außenpolitischen Bedingungen für die Türkei in den letzten Monaten verändert.


Die Koalition im Kampf gegen den IS erleidet mehr Rückschläge als sie vorankommt. Ohne die Nachschubwege des IS über die Türkei für neue Kämpfer, Ausrüstung und Geld zu unterbrechen, werden dauerhafte militärische Erfolge nicht möglich sein. Also haben die USA den Druck auf Ankara wohl erhöht.


Dem Druck nachgegeben hat Ankara wohl auch, weil die Türkei nach dem Atomabkommen mit dem Iran mittelfristig in den Region an Bedeutung einbüßen könnte, wenn Teheran die kommende Zeit nutzt, um seine Position im Nahen und Mittleren Osten zu stärken. Statt eine „islamische Vormacht" in der Region zu werden, gerät Ankara aufgrund seiner zahlreichen außenpolitischen Fehler immer mehr in die „ehrenvolle Isolation", wie türkische Politiker sagen. ( siehe auch Artikel (Außenpolitik): Was bringt das Atomabkommen mit Iran )


Außerdem weiß der meist gut unterrichtete türkische Journalist Murat Yetkin aus „anonymen diplomatischen Quellen" von Gesprächen während der Atomverhandlungen über die Lage in Syrien zwischen den USA, Russland und Iran. Dabei hätte man sich verständigt, Assad außer Landes zu bringen. Die Regierung in Damaskus aber soll im Amt bleiben, damit islamistische Gruppen nicht auch noch die Macht in Damaskus übernehmen können. Ankara hat allen Grund, seinen Kurs zu ändern, wenn es nicht weiter an Einfluss auf die Kriege im Nachbarland verlieren will. Die Regierung weiß auch: Je mehr sich die Türkei im Kampf gegen den IS zurückhält, umso wichtiger werden die Kurden in Syrien, der Ableger der PKK, für die USA als Bündnispartner. Vor allem fürchtet die Regierung, dass die Kurden in Syrien, die PYD ( Ableger der PKK ) einen kurdischen Korridor erobern könnten, der von Syrien bis zum Irak reicht. Damit könnte der PKK Ableger ein quasi-Staatsgebiet an der Grenze zur Türkei sichern.


Schließlich passt das Kriegsszenario der (noch) amtierenden AKP Regierung und dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan auch innenpolitisch gerade ins Konzept. Als vor gut einem Monat ein Attentäter, mutmaßlich des IS, mit einer Bombe auf einer Wahlkundgebung der HDP im Südosten der Türkei, in Diyarbakir, 5 Menschen tötete und mehrere hundert Menschen verletzte, war die Reaktion in Ankara zurückhaltend. Das war, bevor die AKP ihre absolute Mehrheit im Parlament verlor.


Jetzt kann die Regierung mit dem Einsatz der Armee ‚gegen den Angriff von gleich drei Terroristengruppen auf ein Mal' (Ministerpräsident Ahmet Davutoglu), zum Sammeln hinter der türkischen Fahne trommeln. Kritiker der AKP befürchten, dass damit Neuwahlen vorbereitet werden, bei denen man vor allem im rechtsnationalen Lager die fehlenden Stimmen für eine absolute Mehrheit sammeln will. Es war zumindest bemerkenswert, wie Ahmet Davutoglu auf einer Pressekonferenz gestern vehement versicherte: Nein, es gehe der Regierung bei ihrem Kurswechsel keineswegs um ihre eigene Zukunft, sondern nur um die Zukunft des Landes.


Den Rechtsnationalen waren die Verhandlungen der Regierung mit der PKK schon lange zuwider. Sie begrüßen die Luftschläge der türkischen Kampfjets gegen PKK Lager im Nordirak. Landesweite Razzien, nicht nur gegen den IS und die Terrorgruppe DHKP/C sondern auch gegen die PKK, das ist ganz in ihrem Sinne. Dass damit auch die jahrelangen Verhandlungen über einen Friedensprozess im Südosten der Türkei in Frage gestellt werden, zeigt nur: Ankara – und auch Washington – opfern viel für die Hoffnung auf kurzfristige Vorteile. Sicher ist, die USA haben zu den Luftschlägen der türkischen Luftwaffe gegen die PKK im Nordirak ihr OK gegeben.


„Die Türkei in großen Schwierigkeiten" titeln Kommentatoren die neue Lage. Was dieser Kurswechsel dem Land am Bosporus bringen wird, kann heute keiner vorhersagen. Der Wert der türkischen Lira ist jedenfalls sofort um fast 5 % eingebrochen. Immerhin will die türkische Regierung, die eigentlich nur ‚noch' im Amt ist, den IS im Norden Syriens bekämpfen, und die Kurden, die dort ebenfalls gegen den IS stehen . Sie beginnt gleichzeitig Gefechte mit der PKK, die rund um ihre Garnisonen liegt - und spaltet die Gesellschaft weiter. Und was macht die größte Oppositionspartei im Land, die CHP? Sie ist erst einmal abgetaucht. Es gibt reichlich Anlass zur Unruhe.