Sinkt die Türkei wieder zurück in dunkle „Kriegszeiten" wie in den 90iger Jahren? Wo laufen die vielen Fäden des politischen Wirrwarrs am Bosporus zusammen?

Mehr Anschläge, mehr Gefechte mit der PKK, mehr Tote, türkische Kampfjets bombardieren, die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen kurdische Politiker, wird deren Partei (HDP) gar verboten? Europäische, insbesondere deutsche Politiker mahnen. Auch zwei Monate nach den Wahlen gibt es noch keine neue Regierung – dafür mehr und mehr Anzeichen für Neuwahlen, für eine Staatskrise gar. Die türkischen Zeitungen spekulieren über die taktischen Winkelzüge des türkischen Staatspräsidenten Tayyip Erdogan – über die wahren Absichten des Regierungschefs Ahmet Davutoglu. Aber kaum keiner spricht von den USA und dem Kampf ihrer „Koalition gegen den IS". Dabei laufen viele Fäden des politischen Wirrwarrs am Bosporus hier zusammen.


Es steht nicht gut um den Kampf gegen den IS.


So sah der Plan im letzten Sommer aus: Die USA und ihre Verbündeten liefern Waffen an die Kämpfer vor Ort. Sie bilden sie aus und im Spätherbst wird die irakische Stadt Tikrit von der Koalition zurückerobert. Nach diesem „Terstlauf" startet die Koalition im Frühjahr eine Großoffensive auf die „Hauptstadt" des IS, Mossul. ( siehe auch Artikel (Außenpolitik): Der Test )


Tikrit wurde schließlich nach wochenlangen Kämpfen von der irakischen Armee und schiitischen Milizen erobert – aber die Großstadt Tikrit, einst Zentrum der Sunniten im Irak, war da schon nur noch ein unbewohntes Trümmerfeld, das dann von schiitischen Milizen geplündert wurde. Das Misstrauen der Sunniten in die Schiiten war neu bestätigt und der IS eroberte im Gegenzug die irakische Stadt Ramadi.


Danach war Schluss mit dem Aufmarsch zur Großoffensive gegen den IS. Weder die Ausbildung noch die Ausrüstung noch die Zusammenarbeit im Kampf gegen den IS reichen dafür. Zusammen mit Ankara zum Beispiel haben Washingtons Ausbilder bislang gerade mal 60 syrische Rebellen trainiert, weil sich beide Seiten noch nicht einigen konnten, welche Gruppen in Syrien denn nun unterstützt werden sollen. Eine dieser exklusiven, frisch ausgebildeten Einheiten wurde übrigens gerade von der Al-Nusra Front gefangen genommen.


Trotzdem verkündete der Sonderbeauftragte des amerikanischen Präsidenten für den Kampf gegen den IS, John Allen, vor wenigen Tagen trotzig, der IS verliere in Syrien und im Irak. Am gleichen Tag aber wird er von der Presse vorgeführt. Die zitiert aus amerikanischen Geheimdienstberichten. Danach ist der IS auch nach einem Jahr und hunderten Luftschlägen der von den USA geführten Koalition etwa genauso stark wie zuvor. Manche erinnern jetzt schon an die Beteuerungen amerikanischer Politiker während des Vietnamkrieges. Damals war immer wieder vom „Licht am Ende des Tunnels" die Rede, bis die US-Truppen abziehen mussten.


Soweit ist es wohl noch nicht, aber der IS konnte den Verlust von rund 10.000 Kämpfern im vergangenen Jahr anscheinend ausgleichen. In der gleichen Zeit kassierte er außerdem durch Ölschmuggelgeschäfte etwa 500 Mio USD. Dieser Nachschub kam vor allem über die Türkei, so ein Bericht des State Departments vom Juni dieses Jahres.


Offenbar glaubten die amerikanischen Militärstrategen, ohne aktive(ere) Beteiligung der Türkei sei kein Fortschritt im Kampf gegen den IS möglich. Jetzt können die USA und ihre Verbündeten praktisch alle großen türkischen Stützpunkte entlang der 900 km langen Grenze zu Syrien nutzen. Das erleichtert ihnen die militärische Aufklärung in der gesamten Region erheblich. Damit können sie auch unmittelbar auf Aktionen gegen die Nachschubwege des IS dringen. Es ermöglicht ihnen außerdem rasche Kommandoaktionen zur Rettung abgeschossener Piloten oder zur Befreiung von Geiseln. Darüber hinaus fordern einige US Militärs seit langem, dass amerikanische Kommandos die Kämpfer gegen den IS am Boden begleiten und auch die Luftschläge der Koalition vom Boden aus koordinieren. Auch das ist von den türkischen Luftwaffenstützpunkten am besten möglich. Das Abkommen mit der Türkei öffnet also die Tür für eine beträchtliche Ausweitung des Krieges gegen den IS.


Berichte, wonach die USA nun „entsetzt" seien, dass die türkische Luftwaffe zur Zeit vor allem Angriffe auf Stellungen der PKK fliegt, sind dagegen eher eine Fabel. Tatsächlich erhalten die türkischen Piloten alle nötigen Koordinaten für ihre Angriffe auf PKK Stellungen im Irak von der US Aufklärung, wahrscheinlich sogar auch die für die Luftschläge auf türkischem Territorium. Das war anscheinend der Deal mit Ankara: Bis sich die „Koalitionäre im Kampf gegen den IS" auf den türkischen Stützpunkten eingerichtet haben, zieht die türkische Armee erst einmal gegen die PKK zu Felde.


Dass Tayyip Erdogan u.a. damit Neuwahlen vorbereiten könnte, um erneut die Alleinherrschaft der AKP zu erreichen, sieht man in Washington wahrscheinlich gelassen. Vielleicht erscheint dies den USA sogar günstiger als eine Koalitionsregierung am Bosporus. Jede Art von Koalitionsregierung verspricht Unruhe, politischen Streit und weniger „Stabilität". Alles das aber wollen Militärs in „Kriegszeiten" in einem Land vermeiden. Ob die Drohung des IS, man habe bereits 1.000 Kämpfer auf türkischem Territorium positioniert, übertrieben ist, weiß keiner. Wird der Kampf gegen den IS von türkischem Boden aus aber erst einmal ernsthaft geführt, wird sich die „Sicherheitslage" in der Türkei grundlegend ändern.


Wie auch immer: Ohne Verständigung mit Washington hätten Tayyip Erdogan und die (noch) AKP Regierung nicht den nötigen Handlungsspielraum für ihre weitgehenden Manöver. Nach wie vor sind die Rollen des Kochs und des Kellners klar verteilt.


Ob die Kalkulationen aufgehen? Für die USA ? Für Tayyip Erdogan ? Viele in der Türkei erinnern sich zur Zeit an die dunklen Tage der 90 iger Jahre, als Abgeordnete verhaftet und verurteilt wurden, als Türken und Kurden aufeinander losgingen und täglich irgendwo im Land Opfer dieses Krieges beerdigt wurden. Aber die Türkei heute ist nicht mehr die Türkei der 90iger Jahre – und von den strategischen Plänen der Militärs im Kampf gegen den IS ist bislang noch keiner aufgegangen.