Kein Tag ohne Bombenanschlag, Tote und Verletzte. Was bedeutet der Einsatz der türkischen Armee im Norden Syriens? Bringt der „Sieg“ mehr Sicherheit?

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Toll diese neue Brücke über den Bosporus – nicht wahr!? Wie es sich für eine islamisch-konservative Regierung gehört, wird das Bauwerk stolz am heiligen Freitag mit Musik und Wasserspielen und dem dazugehörigen Medienrummel eingeweiht.


Wenn man sich umhört, erfährt man aber auch immer wieder: Ich will gar nichts mehr wissen! Ich habe schon genug damit zu tun zu begreifen, was gerade geschieht. Früher hat uns noch interessiert: Wie viele Stunden Fahrzeit spart man durch so eine Brücke, wenn man nach Izmir will? Gibt es eine U- Bahnstation in der Nähe der Wohnung? Wird das Fußballstadion ausgebaut? Wieso steigen die Preise für Obst, Gemüse und Fleisch, wieso ist die Luft so schlecht ... ?


Und jetzt ? Jetzt weiß ich nicht mal, ob mich meine Verwandten aus dem Ausland besuchen können, ob sie Probleme bei der Ausreise bekommen. Ist es überhaupt noch sicher, mit dem Flugzeug zu reisen? Wie wird das nach den Ferien für meine Kinder - in der Schule, auf der Universität? Gibt es dort noch einen geregelten Unterricht? Arbeitet die Stadtverwaltung normal? Bekommen wir die Genehmigung für die geplanten Renovierungsarbeiten unseres Hauses, die seit zwei Monaten überfällig ist? Was wird aus meinem Job? Wer ist am Gericht jetzt wofür zuständig? Und vor allem: Wie viele Flüchtlinge kommen noch? Was wird aus denen, wenn wir selbst in größere wirtschaftliche Probleme geraten? Müssen wir jetzt täglich und überall mit einem Bombenanschlag rechnen – so wie im Südosten des Landes? Versinkt die Türkei jetzt auch noch in Syrien in einem Krieg?


Es gelingt nicht einmal mehr der Regierung, so zu tun, als sei alles wieder ganz normal und in Ordnung (Regierungschef Yildirim: Totaler Krieg!). Gestern ein Bombenanschlag im südostanatolischen Cizre mit mindestens 11 Toten und mehr als 70 Verletzten. Am Tag zuvor eine Sprengfalle in der Urlauberstadt Antalya, drei Polizisten wurden verletzt. Noch ein Tag davor starben 6 Soldaten bei Gefechten mit der PKK. Kurz zuvor der Anschlag des IS im Südosten mit 54 Toten usw usw.


Erkennt die Regierung den ernst der Lage? Immerhin ließ sie in Ankara und in 12 weiteren Bezirken in den letzten Tagen ein besonderes Alarmsystem einrichten, das schon vor einiger Zeit an der türkisch-syrischen Grenze gegen Raketenbeschuss durch den IS in Betrieb genommen wurde. Warum wohl?


Schließlich lauerten gestern (25.08.) auch noch Attentäter dem Vorsitzenden der größten Oppositionspartei im Parlament (CHP), Kemal Kilicdaroglu, auf. Sie beschossen sein Fahrzeug auf einer Straße in der Schwarzmeerregion. Einer der Begleiter Kilicdaroglus starb. Nicht einmal mehr die führenden Politiker des Landes können sich frei bewegen. Der CHP Chef musste danach im Hubschrauber weiterreisen. Polizei und Sicherheitskräfte, sind durch die sog ‚Säuberungen’ nach dem Putschversuch fast paralysiert. Nach dem Anschlag auf Kemal Kilicdaroglu meinte der Landrat der Gegend, in der die Attentäter auf den CHP Vorsitzenden lauerten: Ja, man habe schon seit 10 Tagen gewusst, dass in der Region eine Terrorgruppe unterwegs sei. Gegenmaßnahmen? Keine.


Das ist der entscheidende Grund für den Einmarsch einer Panzereinheit der türkischen Armee in den Norden Syriens: Trotz ungezählter Meldungen „Wir haben die PKK besiegt“ gerät Ankara in diesem asymmetrischen Krieg immer mehr in Bedrängnis – und die Regierung glaubt, das liegt an der Unterstützung der PKK durch die Kurden der PYD (Partei der Demokratischen Union) im Norden Syriens. Solange die PKK dort einen Rückzugsraum und Nachschub findet, lässt sie sich auf türkischem Territorium nicht entscheidend schwächen. Das ist im auch der gemeinsame Nenner für den Kampf gegen den IS. Auch da soll ja der Rückzugsraum und Nachschub abgeschnitten werden.


Tatsächlich ging die PYD aus der PKK hervor. Ursprünglich war gut ein Drittel der PKK Kämpfer Kurden aus Syrien. Bekanntlich hatte Abdullah Öcalan lange Jahre sein Hauptquartier im Norden Syriens. Auch wenn die PYD versucht, jede Hilfestellung für die PKK zu kaschieren - die Hinweise sind selbst für den einfachen Beobachter offensichtlich.


Wahrend der Friedensverhandlungen mit der PKK waren auch die Beziehungen der türkischen Regierung mit den Kurden der PYD auf einem guten Weg. Der Chef der PYD, Salih Müslim, war sogar mehrmals offiziell Gast in Ankara und man sprach bereits über ein „autonomes Kurdengebiet im Norden Syriens“. Seit der Krieg zwischen den türkischen Sicherheitskräften und der PKK wieder in vollem Gange ist, herrscht auch zwischen der türkischen Regierung und der PYD wieder offene Feindschaft. Jeder militärische Erfolg der PYD gegen den IS im Norden Syriens ist nun für Ankara eine neue und noch größere Bedrohung.


Die USA benötigen für den Kampf gegen den IS beide. Sie benötigen die Kurden der PYD im Norden Syriens, solange sie nicht selbst Bodentruppen in Syrien einsetzen wollen. Sie benötigen auch die Türkei, schon aus logistischen Gründen. Sie balancieren zwischen beiden – und das bislang mit Erfolg.


Sie unterstützen offen die PYD, sie rüsten sie aus und versorgen sie mit Informationen ihrer Aufklärung. Gleichzeitig sichern sie Ankara zu, dass die PYD nicht „zu stark“ werde, zumindest nicht so stark, dass sie ein geschlossenes Herrschaftsgebiet im Norden Syriens gewinnen. Darüber hatte Tayyip Erdogan mit dem stv. US Präsidenten Joe Biden schon im März dieses Jahres in Washington verhandelt – und schließlich von den USA eine entsprechende Zusage erhalten.


So ist die Erlaubnis der Amerikaner für die – eher kleine Einheit - der türkischen Armee, in den Norden Syriens einzumarschieren auch so etwas wie eine vertrauensbildende Maßnahme: Wir halten Wort, überzeugt euch selbst. Also rückten knapp 400 Mann mit 30 Panzern und etwas Artillerie zur Verstärkung von 5000 syrischen Rebellen der FSA im Norden Syriens vor. An die PYD ist dies auch die Mahnung: Auch ihr haltet Wort – so wie vereinbart! Denn die PYD hatte den USA versprochen, ihre militärischen Erfolge nicht zur Bildung einer geschlossenen Autonomieregion an der türkischen Grenze zu nutzen.


So wurde der IS aus einer Stadt nahe der türkischen Grenze vertrieben – und der ‚militärische Erfolg’ der türkischen Armee im Norden Syrien ist auch noch Balsam auf das verwundete Image der Regierung und der Armee. Aber selbst wenn sich die türkischen Panzer bald wieder aus dem Norden Syriens zurückziehen sollten: Längerfristig kann sich diese Militäroperation als Schlag ins eigene Kontor erweisen.

 

Die ohnehin schier unübersehbare Lage in Syrien ist nun noch komplizierter. Ankara will die syrischen Kämpfer der FSA gegen die PYD in Stellung bringen. Die PYD und die Rebellen der FSA hatten schon mehrfach beim Kampf um die Stadt Aleppo aufeinander geschossen. Das vorgebliche Ziel für den Einmarsch der türkischen Einheit : Erhaltung der Einheit des syrischen Staates wird so eher hintertrieben. Der IS wird diesen Konflikt zu nutzen wissen. Die türkischen Sicherheitskräfte werden nicht in der Lage sein, die 900 km lange Grenze zu Syrien vollständig zu blockieren. Der strategische Erfolg wird gering bleiben. Und mancher türkische Kommentator schreibt voller Angst: Was, wenn die USA meinen, der IS sei genügen geschwächt und sie sich ganz aus der Krieg in Syrien zurückziehen?