War es Absicht, eine gezielte Provokation – oder haarsträubende Schlamperei und Unfähigkeit, die 35 meist jugendlichen Zigarettenschmugglern im Südosten der Türkei das Leben kostete? Schwer zu sagen, was schlimmer wäre.

 

Eine Drohne schickte letzten Donnerstag Bilder nach Ankara, auf denen einen grössere Gruppe von Menschen im Grenzgebiet zwischen dem Irak und der Türkei zu sehen ist. Irgendjemand vermutet, das seien Kämpfer der PKK. Drei Stunden später werfen Kampfjets der türkischen Luftwaffe dort ihre Bomben ab. Dabei werden mehr Zivilisten geötet, als je bei einem einzigen Militärschlag der türkische Armee im Krieg gegen die PKK in den letzten 10-15 Jahren ums Leben kamen.

Was geschah in diesen drei Stunden, vom Empfang der ersten Aufklärungsbilder bis zum Bombenabwurf? Bekanntlich können Drohnen Waffen erkennen – alle Schmuggler waren aber unbewaffnet. Offenbar haben die jugendlichen Schmuggler in den Bergen ständig mit ihren Handys telefoniert. Drohnen können solche Signale erkennen – und alle Sicherheitsorgane wissen, dass PKK-Trupps keine Handys zur Verständigung benutzen. Bekannt sind die Wege der Schmuggler. Die Grenzposten der Armee kennen die meisten sogar mit Namen – warum wurde kein einziger Armeeposten in der Region vor dem Befehl zum Angriff auch nur gefragt, ob ihnen etwas Verdächtiges aufgefallen oder bekannt sei? Wer gab schliesslich wieso den Befehl zum Angriff? Viele Fragen – und bisher keine einzige Antwort.

Lügen

Ministerpräsident Tayyip Erdogan „bedauert“ den versehentlichen Angriff, aber er reist nicht an die Grenze, um den Angehörigen der Opfer sein Beileid auszusprechen. Der stellvertretende Ministerpräsident Bülent Arinc verspricht den Angehörigen der Opfer eine Entschädigung, lehnt aber eine offizielle Entschuldigung der Regierung ab. Das könne die weiteren Untersuchungen negativ beeinflussen. Der Journalist Mehmet Baransu verfügt offenbar über gute Kontakte innerhalb der Sicherheitsorgane. Er schrieb, der türkische Geheimdienst MIT, oder genauer: Ein MIT Agent innerhalb der PKK trage mit wiederholt falschen Informationen die Hauptverantwortung für das Desaster. Tayyip Erdogan erklärte im Fernsehen, MIT habe bei dem Angriff keine Rolle gespielt. Erdogan und Baransu bezichtigen sich nun öffentlich der Lüge.

Was ist da los? Was auch ans Licht kommen mag, unter dem Strich bleibt: Die türkische Armee ist in einem „katastrophalen Zustand“. Gesagt hat das der damalige Generalstabschef Isik Kosaner im August letzten Jahres, und veröffentlich war es in den Zeitungen. Es war das Protokoll eines abgehörten Telefongespräches. Der Militärische Geheimdienst wusste offenbar nichts von diesem Lauschangriff, oder hat ihn sogar selbst organisiert.

Misshandlungen und Beschwerden

Die Kommission des Parlaments, die sich um Menschenrechtsverletzungen kümmern soll, wurde im ersten Halbjahr letzten Jahres mit Beschwerden über Misshandlungen in der Armee so überschüttet, sodass sie eigens dafür eine Unterkommission gründen musste. So drückte z.B. ein Offizier einem Rekruten eine entsicherte Granate in die Hand, um ihn zu bestrafen, weil er während der Wache geschlafen hat. Die Granate explodierte, vier Soldaten starben. In den vergangenen 5 Jahren wurden 400 Selbstmorde in der Armee gezählt. Allein in den ersten drei Tagen des neuen Jahres sollen sich drei Soldaten das Leben genommen haben. Nur selten fordern Angehörige Aufklärung-. Im August letzten Jahres verurteilte der europäische Menschenrechtsgerichtshof Ankara, weil eine dieser „Selbsttötungen“ offenbar tatsächlich als Mord oder Totschlag zu werten war.

Offiziere wurden verhaftet, weil sie der PKK beim Überfall auf Grenzposten der Armee behilflich sind. Im Dezember letzten Jahres hatte ein Hauptmann bei der Bombardierung mutmasslicher Stellungen der PKK im Nordirak 18 mal falsche Koordinaten an die Luftwaffe weitergeleitet, sodass die Kampfjets menschenleere Schluchten bombardierten. Letzten Montag flog ein Munitionsdepot der Armee nahe der bulgarischen Grenze in die Luft, 4 Menschen kommen dabei ums Leben. Und das sind nur einige Vorfälle, die zumindest bekannt wurden.

Keiner traut dem anderen

Wie kommt das? Ein wichtiger Grund dafür ist sicher der nach wie vor anhaltende Kampf zwischen Politik und Militär und die Frage: Wer kontrolliert wen. Die Aufdeckung zahlreicher Putschversuche hat fast alle Kommandoebenen in der Armee erschüttert. Immerhin sassen letztes Jahr 40 Generäle in U-Haft, 350 Offiziere müssen mit einem Strafverfahren rechnen. 34 Generäle und Admiräle wurden wegen mutmasslicher Putschversuche vorzeitig in den Ruhestand geschickt. Seit Montag dieser Woche ist nun auch ein offizielles Ermittlungsverfahren gegen den ehemaligen Generalstabschef Ilker Basbug eingeleitet. Auch er soll Putschisten unterstützt haben. Das ist einmalig bisher in der Geschichte der Republik Türkei und so ungewöhnlich, dass sich die Experten noch nicht einmal einig sind, welche Richter denn eigentlich für einen ehemaligen Generalstabschef zuständig sind.

Offenbar traut in der Armee inzwischen kaum einer mehr dem anderen. Die Regierung hält den türkischen Geheimdienst MIT für einen Eckstein in ihrem Ringen um die Kontrolle über die Sicherheitsorgane. Der Geheimdienst, der bisher von der Armee kontrolliert wurde ist nun direkt an das Amt des Ministerpräsidenten angebunden. Zum Chef des Geheimdienstes ernannte Tayyip Erdogan im Mai letzten Jahres Hakan Fidan, einen ihm nahestehenden Beamten, der im Amt des Ministerpräsidenten gearbeitet hatte. Der hatte auch einst die direkten Verhandlungen für Erdogan mit dem PKK Chef Öcalan geführt. Wen wundert es, dass jetzt aus einigen Ecken der Ruf schallt, der Geheimdienst sei für das Massaker an den Schmugglern verantwortlich ? Das neue Jahr begann mit Krisensitzungen in Ankara: Der Regierungschef traf sich mit dem Generalstabschef und danach mit dem Kabinett. Ergebnis: Geheim. Bei der NATO in Brüssel werden indes die Sorgenfalten tiefer. Immerhin ist die türkische Armee die zweitgrösste im Atlantischen Sicherheitsbündnis.