Das war zu befürchten. Immer, wenn ein echter Fortschritt in der Kurdenfrage, wenn ein Schritt hin zum Frieden im Südosten der Türkei möglich scheint, geschieht Schreckliches – und alle rücken wieder zurück auf Los.

 

Beim Überfall der PKK auf eine Einheit türkischer Soldaten vor zwei Tagen verlieren 13 Soldaten und 7 PKK Mitglieder das Leben. Es war einer der verlustreichsten Gefechte der vergangenen 5 Jahre. Im Osten, in Adiyaman gehen daraufhin Anhänger der rechtsgerichteten MHP auf die Strasse, in Ankara fliegen Molotow-Cocktails gegen das Parteigebäude der Kurdenpartei BDP, in Istanbul wird eine Jazzsängerin bei einem Konzert ausgebuht, weil sie auf Kurdisch singt und in der Bezirkshauptstadt Diyarbakir im Südosten der Türkei muss der Pop-Sänger Tarkan ein Konzert wegen einer Bombendrohung abbrechen.

Seit fast 20 Jahren geht das schon so

Dabei waren zum ersten Mal konkrete Schritte zur endgültigen „Entwaffnung der PKK“ besprochen worden (siehe Artikel: Türkisches Getöse). Und jetzt lautet offenbar die Losung: Vorwärts in die Vergangenheit. Schon seit fast 20 Jahren geht das so.

1984 begann die PKK ihren bewaffneten Kampf. 1988 erklärte zum ersten Mal ein Abgeordneter im türkischen Parlament: Es gibt ein Kurdenproblem. Am 14. Oktober 1991 verspricht der damalige Staatspräsident Turgut Özal auf einer Reise durch den Südosten: Ich werde das Kurdenproblem endgültig lösen. Das wird mein letzter Dienst für mein Volk sein. Im März 1992 läd er drei Kurdenpolitiker nach Ankara ein, um mit ihnen einen Kurdenplan zu beraten. Zwei Tage später beginnt das kurdische Neujahrsfest Newroz. Es wird das blutigste in der Geschichte des Krieges im Südosten der Türkei mit 57 Toten, nichtstaatliche Organisationen sprachen gar von 113 Toten.

 

Eine Chronik blutiger Anschläge auf Friedensbemühungen

 

Am 17. April 1993 stirbt Turgut Özal überraschend. Gerüchte über ungeklärte Umstände seines Todes sind sie ganz verstummt. Trotzdem: Einen guten Monat später, am 25. Mai 1993 will das Kabinett in Ankara zum ersten Mal eine Generalamnestie für PKK Kämpfer beraten. Einen Tag zuvor, am 24. März, werden bei einem Überfall auf einen Militärtransporter im Südosten 33 Soldaten getötet. Die genauen Umstände dieses Massakers sind bis heute nicht geklärt. Seit 1993 gilt die PKK auch international als Terrororganisation. Es beginnt eine mörderische Periode im Krieg zwischen der PKK und der türkischen Armee mit tausenden Toten.

1995 will die Regierung den Ausnahmezustand im Südosten der Türkei wenigstens teilweise aufheben. Wieder wird ein Konvoi des türkischen Militärs überfallen (März 1995). Dieses Mal sterben 18 Soldaten. Der Ausnahmezustand bleibt.

 

Es gibt ein Kurdenproblem, aber ...

Nachdem der PKK Führer Abdullah Öcalan gefangengenommen wurde (1999) kommt die AKP unter Tayyip Erdogan an die Macht (2002) Sie hebt im November 2002 endlich den Ausnahmezustand im Südosten der Türkei auf. Im August 2005 erklärt der Regierungschef Tayyip Erdogan auf einer Kundgebung in Diyarbakir zum ersten Mal: Es gibt ein Kurdenproblem, der Staat habe in der Vergangenheit schwere Fehler begangen – und er sehe es als seine Aufgabe an, diese Problem zu lösen. Bald darauf kommen bei nur einem Bombenanschlag und drei Überfällen auf Grenzposten der türkischen Armee 4 dutzend Soldaten und Zivilisten ums Leben. Danach beginnt die türkische Armee mit grenzübergreifenden Operationen auf nordirakisches Territorium.

Im August 2009 wird schliesslich bei einem Treffen von Vertretern einer türkischen der Regierungspartei AKP, dem türkischen Geheimdienst und Kurdenpolitikern der sog. „Kurdenplan“ aus der Taufe gehoben. Ende 2009 kommt sogar schon die erste Gruppe PKK Kämpfer aus Lagern im Nordirak zurück in Türkei. Es soll ein Test sein für die Heimkehr von PKK Mitgliedern. Doch 6 Monate später stellt die türkische Justiz Haftbefehle gegen alle diese Rückkehrer aus, „wegen Mitgliedschaft in der PKK“, die Kurdenpartei DTP wird verboten, und 7 Soldaten starben bei einem Überfall der PKK auf einen Grenzposten der türkischen Armee.

Wer zieht da welche Fäden ?

Immer wieder wurden in der Vergangenheit Gerüchte laut, Teile des türkischen Geheimdienstes und der türkischen Armee hätten – ausserhalb jeder offizieller staatlicher Kontrolle – mit gezielten Falschinformationen und Versprechungen auch die PKK für ihre Zwecke benutzt.

Bereits im vergangenen Jahr war im Zusammenhang dem Prozess gegen mutmassliche türkische Putschisten (Ergenekon) von der Staatsanwaltschaft durchgesickert, die mutmasslichen Putschisten hätten sich ab und an auch die Stadtzellen der PKK bedient, um Unruhe und Chaos zu organisieren.

Bald darauf äusserte sich der operative Führer der PKK im Nordirak Murat Karayilan in einem Buch zu dem Massaker an den Soldaten 1993. „Einige Kreise innerhalb des Staates starteten Operationen um den Friedensprozess zu sabotieren.“ Sie hätten die unbewaffneten Soldaten der PKK dafür als Köder angeboten – und der regionale Guerilla-Führer Semdin Sakik sei in deren Falle getappt.

Anfang dieses Jahres zitierte schliesslich die türkische Presse den PKK Führer Abdullah Öcalan. Der habe zu Protokoll gegeben, nichtgenannte staatliche Stellen hätten 1996 mit ihm Kontakt aufgenommen. Die PKK sollte die damalige Ministerpräsidentin Tansu Ciller ermorden. Diese ‚nichtgenannten staatlichen Stellen’ wollten alles für das Attentat vorbereiten, die PKK brauche nur noch den Anschlag auszuführen. Öcalan habe das abgelehnt.

Bei fast allen der hier aufgeführten Anschläge und Gefechte wurden ungewöhnliche Umstände in der Presse aufgedeckt. Auch dieses Mal gibt es Ungereimtheiten bei den Berichten über den Angriff der PKK auf die Einheit der türkischen Armee. Noch ist nicht klar, ob es sich dabei um eine der üblichen türkischen Komplotttheorien handelt, oder nur um den Versuch der Militärführung, Schlamperei, mangelnde Vorsorge und Umsicht sowie Fehler bei der operativen Leitung zu vertuschen.

Rücken jetzt wieder alle auf Los ?

Der türkische Regierungschef Tayyip Erdogan, der in dieser Legislaturperiode mit einer neuen Verfassung auch den Grundstein zu einer dauerhaften Lösung des Kurdenproblems legen wollte, erklärte vorgestern in die Kameras der Nachrichtensender: Es gibt kein Kurdenproblem, es gibt nur ein PKK Problem und diese Organisation sowie alle ihre „befreundeten“ Organisationen, (damit meinte er auch die Kurdenpartei BDP) könnten mit keinerlei Nachsicht oder Entgegenkommen rechnen. Das war wortwörtlich die Losung der Politik nach Turgut Özals Tod in den 90iger Jahren.

Und die Kurdenpartei ? Letzte Woche noch hatte sich der angesehene Kurdenpolitiker Hasip Kaplan (BDP) für den Tod zweier Soldaten während eines Gefechtes in den südostanatolischen Bergen bei deren Angehörigen „millionenfach“ entschuldigt. Dieses Mal fordern die Kurdenpolitiker nur trocken die Autopsie-Berichte der getöteten Soldaten abzuwarten, um die näheren Umstände ihres Todes zu erfahren. Ausserdem bleiben sie bei ihrem Boykott des Parlaments in Ankara – und verkünden stattdessen in der Bezirkshauptstadt Diyarbakir eine „demokratische Autonomie“.

Offensichtlich ist, so einer der Kommentatoren in Istanbul, mit der Aufhebung des Ausnahmezustandes im Südosten der Türkei und ein paar Fernsehsendungen in kurdischer Sprache lasse sich das Kurdenproblem nicht lösen. Wer die Hoffnung auf einen dauerhaften Frieden im Südosten der Türkei nicht aufgeben will, setzt nun darauf, dass alle Seiten die kommenden Parlamentsferien nutzen, um den Faden für Friedensgespräche wieder aufzunehmen. Denn ohne Waffenruhe im Südosten der Türkei und ohne die Beteiligung der Kurden ist auch eine ernstzunehmende Verfassungsreform nicht denkbar.