Geraten die Unruhen, Ausschreitungen und der Kampf der türkischen Sicherheitskräfte mit der PKK in der Türkei außer Kontrolle? Es eskaliert nicht nur der Konflikt zwischen dem Staat und der PKK.

Vor 17 Jahren berichtete eine Untersuchungskommission dem türkischen Parlaments, was 23 Jahre Ausnahmezustand im Südosten der Türkei im Kampf gegen die PKK gebracht haben. Ausnahmezustand, das wusste damals jeder, war nur ein ziviler Überzug für Kriegsrecht. Seit 1987 hatte das türkische Parlament dieses Kriegsrecht für weite Teile des Südostens des Landes 46 Mal verlängert. Es war also nicht zu früh, Bilanz zu ziehen: Zu den mehr als 30.000 Toten in diesem Krieg verloren im Zuge des Ausnahmezustandes fast eine halbe Million Menschen im Südosten der Türkei Haus und Hof. Mehr als 55.000 wurden verhaftet, rund 5.000 kamen ins Gefängnis, darunter auch mehr als 200 Kinder.

Am 3. November 2002 wurde die AKP zum ersten Mal zur Regierungspartei in Ankara gewählt. Am 20. November 2002 wurde der Ausnahmezustand im Südosten der Türkei endgültig aufgehoben.


Endgültig stimmt nicht. Jetzt, 13 Jahre später, erfindet die AKP einen neuen Überzug für das Wort Ausnahmezustand – jetzt heißt es „Sicherheitszone". Dort finden nun immer größer angelegte Militäroperationen statt, es gibt Ausgangssperren in verschiedenen Städten – wieder steigt die Zahl der Toten, der Vertriebenen, der Verhafteten.


Möglich ist die Rückkehr zur alten Politik in Ankara, weil auch die PKK nur mit der alten erfolglosen Strategie des Guerilla-Krieges um sich schlägt. Unter der Losung "Wir verteidigen uns nur" werden Reisebusse und Restaurants beschossen, Sprengfallen gelegt und Militärstützpunkte angegriffen. Mit jeder Beerdigung eines getöteten Soldaten oder Polizisten heizt auch die PKK die Stimmung an und spielt den Hardlinern in der Regierung in die Hand. Gleichzeitig ruft sie die Kommunen im Südosten auf, sich für „autonom" zu erklären, fordert Polizei und Justiz heraus und befeuert damit die alte Angst, die PKK wolle doch nur einen separaten Kurdenstaat.


Doch es eskaliert nicht nur der Konflikt zwischen dem Staat und der PKK. Hass und Gewalt ziehen durch immer mehr Städte der Türkei – und das könnte das Land auch dann noch erschüttern, wenn die PKK und die Regierung in Ankara längst wieder verhandeln.


Stellen Sie sich vor: In verschiedenen Städten in Deutschland liefern sich rechte und linke Demonstranten Straßenschlachten, und prügeln sich mit der Polizei. Die Politiker von CDU oder SPD schweigen dazu. Stattdessen ruft der amerikanische Botschafter in Berlin die Demonstranten auf, sie sollen für ihre Anliegen doch bitte friedlich eintreten.


Ein absurdes Szenario ? So geschehen am Bosporus. Tagelang hatte die Regierung einfach geschwiegen, als rechtsnationale Schläger mit Steinen und Brandsätzen Parteibüros der kurdennahen HDP und das Gebäude der Zeitung Hürriyet und angriffen. Stattdessen twitterte der amerikanische Botschafter in Ankara: „Wir rufen die Bürger der Türkei auf, sich an den Idealen der Demokratie zu orientieren, die Meinungsfreiheit zu unterstützen und sich nur an friedlichem Protest zu beteiligen. Wir halten es auch für wichtig, dass (alle) türkischen Parteien und Medien gleichermaßen von der Polizei geschützt werden".


Der TV Sender IMC meldete: Allein am vergangenen Montag (07.09.) wurden, 126 Parteibüros der HDP von Randalierern angegriffen, Etliche Büros wurden verwüstet oder in Brand gesetzt. Der HDP (Co-)Vorsitzende Selahattin Demirtas sprach am gleichen Tag sogar von 400 Übergriffen in zwei Tagen. Wer die Banden organisiert ist nicht bekannt.


In der Stadt Corlu konnte nur mit Mühe verhindert werden, dass eine Horde Demonstranten eine Funktionärin der HDP lynchte. In der Stadt Konya und Beypazari wurden kurdische Arbeiter mit Steinen und Prügeln angegriffen, 27 wurden verletzt. Im Internet kursieren Bilder, sie zeigen ein kurdisches Kind, das – so die Angaben - von türkischen Nationalisten verprügelt wurde. Danach wurde ihm eine türkische Fahne umgehängt und das weinende Kind fotografiert. In Istanbul randalierten türkische Nationalisten in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch in den Vierteln, in denen sie Wohnungen der armenischen Minderheit vermuten. Auch das Pressegebäude der als religionsfern bekannten Tageszeitung Hürriyet in Istanbul wurde zwei Mal attackiert. In einigen Städten konnten die Randalierer von der Polizei praktisch ungehindert vorgehen. Ein Reporter der Zeitung Hurriyet veröffentlichte ein Bild, auf dem einer der Schläger vor dem Verlagsgebäude neben einem Polizisten vor einem Erinnerungsfoto posiert. Die Zeitung wurde auch nach dem ersten Angriff nicht von Sicherheitskräften geschützt.


Das alles geschah angeblich aus Protest gegen die PKK – und das auf den Tag genau 60 Jahre nach dem schlimmsten Pogrom türkischer Nationalisten 1955 in Istanbul gegen die griechische Minderheit. ( siehe auch Artikel ( Kultur und Geschichte): Schikaniert – attackiert – deportiert ... )

 

Es ist die alte Politik der Türkei, die mit Steinen, Prügeln und Brandsätzen durch die Wohnviertel zieht. Jahrzehntelang hatten die verschiedenen politischen Gruppierungen am Bosporus ihrer Schlägertrupps auf der Straße gegeneinander gehetzt.Das hat unter anderem 1955 zum Pogrom gegen die griechische Minderheit in Istanbul geführt. Ende der 70iger starben bei solchen Straßenschlachten bis zu 150 Menschen täglich, bis ein Militärputsch dem ein Ende bereitete. Das hat 1993 zum Pogrom gegen die alevitische Minderheit in der Stadt Sivas geführt, bei dem 35 Menschen in einem Hotel bei lebendigem Leibe verbrannt wurden.

 

Noch 2006 veröffentlichte die Tageszeitung Radikal eine Chronik von 22 Fällen von Lynchjustiz in der Türkei in den vorangegangenen zwei Jahren – ohne dass die Politik entschieden dagegen vorgegangen wäre. In den darauffolgenden Jahren nahm die Zahl solcher Vorfälle ab. Seit den sog. Gezi-Protesten vor zwei Jahren kommt es wieder häufiger zu solchen Ausschreitungen. Vorläufiger Höhepunkt war der Wahlkampf im April und Mai diesen Jahres. Der türkische Menschenrechtsverein listete Ende Mai allein 114 Übergriffe auf Kundgebungen und Büros der HDP während des Wahlkampfes auf. 47 Personen wurden dabei verletzt.


Ende Februar drohte gar der Regierungschef Ahmet Davutoglu vor einer Versammlung der AKP Bürgermeister: Die Opposition solle es ja nicht wagen, die Bürger zum Protest gegen das (damals geplante) Sicherheitsgesetz aufzurufen. Sonst würden die Bürger die Verteidigung ihrer Straßen und Viertel selbst in die Hand nehmen" (Hürriyet, 20.2.2015). Im November letzten Jahres zitierte eine türkische Tageszeitung den Staatspräsident Tayyip Erdogan: „Ein Handwerker ist, wenn nötig, auch ein Soldat, ein Polizist und Richter" (Diken, 26.11.2014). Zur gleichen Zeit fand ein Prozess gegen Handwerker statt, die einen jugendlichen Demonstranten vor der Augen der Polizei zu Tode geprügelt hatten. Am 1. Mai diesen Jahres verprügelten dann Ladenbesitzer eine Gruppe von Demonstranten in Istanbul und berichteten der Tagezeitung Hürriyet, der Polizeichef von Istanbul habe ihnen für ihren Einsatz gedankt.


Mittlerweile hat auch der Regierungschef Ahmet Davutoglu, AKP, die Ausschreitungen kritisiert, wohl auch, weil die Unruhen außer Kontrolle zu geraten drohen. In diesen Tagen aber wird deutlich: Der demokratische Firnis ist dünn am Bosporus. Was, wenn die Regierung wieder mit der PKK verhandeln will – aber der Mob, der Parteibüros verwüstet und Bürger verprügelt, die einer Minderheit angehören, lässt sich nicht einfach zurück in die Teehäuser schicken?


Die Kritiker der Regierung und des türkischen Staatspräsidenten Tayyip Erdogan vermuten, der habe diese Suppe nur angerührt, damit seine Partei, die AKP, als starke Kraft in unruhigen Zeiten bei den Neuwahlen am 1. November wieder die absolute Mehrheit erringt. Was aber, wenn auch nach dem 2. November Hass und Gewalt das Land beherrschen – ganz egal, wie die Wahlen ausgegangen sind ?


Besonnene Stimmen gibt es zur Zeit am Bosporus nur wenige. So fragte der türkische Journalist Levent Gültekin die PKK vor wenigen Wochen in einem Kommentar: ‚Wieso tretet ihr die Geduld der Menschen, die Frieden wollen, so mit Füßen? Wieso gebt ihr euch dazu her, der Regierung die Argumente zu liefern, um gegen die (kurdennahe) HDP vorzugehen? Wenn sich die Regierung schuldig macht, macht euch das lange noch nicht zu Unschuldigen!'


Die HDP Politikerin Leyla Zana kündigte gestern (10.9.) an, sie werde einen unbefristeten Hungerstreik für ein Ende des Tötens beginnen. Leyla Zana war die erste Frau, die als kurdische Politikerin 1991 ins türkische Parlament gewählt wurde. Sie saß von 1994 an, nach einem äußerst umstrittenen Prozess, 10 Jahr wegen Unterstützung der PKK im Gefängnis. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilte 2002 die Türkei wegen dieses Urteils. 1995 erhielt sie den EU- Menschenrechtspreis, den Sacharow-Preis. „Lasst uns sterben, damit die jungen Leute nicht sterben. Wenn wird das Morden nicht aufhalten können, werde ich mit dem Todesfasten beginnen. Ich würde lieber sterben, als dieses Töten mit anzusehen.", erklärte sie auf einer Kundgebung im Südosten der Türkei.


Der türkische Staatspräsident Tayyip Erdogan dagegen wird nach dem Tod von 16 Soldaten bei einem PKK Angriff mit den Worten zitiert: Wenn wir bei den letzten Wahlen 400 Abgeordnetensitze im Parlament errungen hätten, wäre das nicht passiert.