Wollen Sie den Bürgerkrieg? Das soll der Abgeordneter der Regierungspartei AKP aus Istanbul İbrahim Yiğit den türkischen Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan gefragt haben. Nein, Tayyip Erdogan will keinen Bürgerkrieg. Aber was will er dann?

 

Mehr als 2 Wochen war der Taksim Platz besetzt, die Zufahrtsstraßen zum Stadtzentrum auf der europäischen Seite Istanbuls waren verbarrikadiert. Alle wussten, das kann so nicht bleiben.

Alle warteten auf die Gespräche, die am heutigen Mittwoch zwischen Vertretern der Taksim Plattform und der Regierung stattfinden sollten. Doch einen Tag zuvor ein Polizeieinsatz, der kaum härter hätte sein können. Das einzige Zugeständnis: Das Camp der Taksim Plattform im angrenzenden Park wurde nicht angegriffen. Das Signal aus Ankara: Gespräche ja, aber nur zu unseren Bedingungen. Gleichzeitig ruft die AKP ihre Anhänger zu Großkundgebungen in Istanbul und Ankara für das kommende Wochenende auf.

Erdogan will keinen Bürgerkrieg, aber er will einer neuen Bürgerbewegung beikommen - nach alter türkischer Politiker-Sitte.

Während die Polizei auf dem Taksim-Platz vorrückten, erklärte Erdogan in Ankara vor seiner Fraktion, dort in Istanbul gebe es ein paar Chaotengruppen – und junge Leute, die nicht merkten, wie sie von dunklen Kräften im Inland und Ausland benutzt würden.

Erdogan hat viele Krisen überstanden, seit seine AKP an der Regierung ist. Mehrmals versuchten Teile der Armee, ihn zu Fall zu bringen. Die Justiz wollte gar seine Partei verbieten. Hunderttausende demonstrierten 2007 gegen einen Präsidentschaftskandidaten aus den Reihen der AKP. Aber damals organisierten vor allem die alten Eliten mit ihren Parteien und Organisationen die Proteste. Das waren die, die um ihre Pfründe bangten, und lieber wieder mithilfe des Militärs die Macht übernehmen wollten, wenn es schon bei den Wahlen nicht reichte. Ihnen gegenüber war der islamisch konservative Tayyip Erdogan der Fortschrittliche. Damals konnte er geschickt mit vorgezogenen Neuwahlen oder einem landesweiten Referendum zeigen, wer bei einer freien Abstimmung eine Mehrheit erhält.

Doch jetzt ist Tayyip Erdogan nicht mehr der Fortschrittliche. Er versucht eine neue Bürgerbewegung abzutun, als handele es sich um „die üblichen Verdächtigen“, eine handvoll Störer und Chaoten, die sich auch in den vergangenen Jahren immer wieder mit roten Fahnen, auf denen „revolutionär“ stand, Keilereien mit der Polizei am Taksim-Platz lieferten.

Er hat noch nicht verstanden hat, auf welch gefährlich schmalen Grat er gerade balanciert.

Mit jedem nicht nachvollziehbaren Polizeieinsatz, mit jeder Verhaftung friedlicher Demonstranten, wächst die Zahl der Empörten. Nach wie vor will die überwiegende Mehrheit der Demonstranten keine Gewalt. Sie hat sich in den letzten Wochen und auch beim gestrigen Polizeieinsatz jedes gewaltsame Vorgehen gegen die Polizei abgelehnt. Aber mit jedem Verletzten, der nur friedlich an einer Kundgebung teilnehmen wollte, wächst auch die Wut.

Die drohenden Anzeichen mehren sich. Während die AKP Fraktion bei seiner Rede tobt und Parolen skandiert, als stünde der Feind vor den Türen des Fraktionssaales, grummelt es in den eigenen Reihen. Erdogan ist gross geworden als der Vertreter des anatolischen Mittelstandes, dem er wirtschaftlichen Aufschwung verschaffte. Jetzt aber bricht bei jeder seiner Brandreden die Börse ein, und die türkische Währung verliert an Wert. Die Rating-Agentur Fitch warnt: Proteste seien kein Kriterium, ein Land herunterzustufen – es komme auf das Krisenmanagement an. Selbst die Verbündeten im Ausland mahnen ihn immer unverhohlener zur Mässigung.

Noch kann Erdogan darauf setzen, dass die Mehrheit zu ihm hält. Alle wissen, ohne Erdogan gibt es keine AKP. Wie alle türkischen Parteien hat die Organisation keinen Vorsitzenden, sondern der Vorsitzende hat seine Organisation. Özals ANAP zerbrach nach seinem Tod wie Ecevits DSP oder Demirels DYP. Viele im Land, auch die, die nicht zu Erdogan’s beinharten Anhängern zählen, fürchten: Zerbricht diese Regierung und ihre Partei, dann droht auch vieles wegzubrechen, was im vergangenen Jahrzehnt aufgebaut wurde. Noch also regiert Erdogan von einer Position der Stärke aus. Aber es könnte fatal werden, wenn er fortfährt, nur auf diese Stärke zu setzen. Hat er die Entwicklung noch in der Hand, wenn am kommenden Wochenende seine Anhänger auf die vermeintlichen Chaoten im Gezi-Park losgehen?

Demokratie ist mehr als eine freie Abstimmung. Demokratie kann nur mit Demokraten funktionieren, mit Politikern, die bereit sind zum Dialog und Kompromiss gerade mit denen, die nicht ihrer Meinung sind. Denn ein Ministerpräsident ist nicht nur der Regierungschef der 50 %, die ihn gewählt haben. Die anderen 50% sind nicht weg, nur weil sie gerade hinter einer Wolke aus Tränengas nicht zu sehen sind.