Was zeigt das Erdbeben von Van mit über 400 Toten und mehr als 1.300 Verletzten? Fehlt es an neuen Gesetzen und Vorschriften – oder einem effektiven Staatsapparat, der die geltenden Gesetze durchsetzt?

 

 Anfang nächster Woche wird sich das Erdbeben in der Türkei bei Van aus den Schlagzeilen zurückziehen. Schon jetzt tauchen Artikel auf in denen nur noch gefragt wird, wohin man den Schutt der zusammengestürzten Häuser kippen soll – oder warum manche in einem Hilfspaket z. B. Badeanzüge nach Van schicken. Tatsächlich aber beginnt jetzt die eigentlich kritische Zeit – die der Aufarbeitung des Erdbebens. Jetzt wird entschieden, wie viele Menschen beim nächsten Erdbeben unnötig sterben werden – und wer wie weiterleben wird nach der nächsten Naturkatastrophe.

Was wird zunächst vom Erdbeben in der Region Van in Erinnerung bleiben? Z.B dass der Regierungschef Tayyip Erdogan selbstkritisch zugab, dass der Staat in den ersten Stunden nach dem Beben „nicht erfolgreich“ war. Daran erinnert man sich schon deshalb, weil Selbstkritik von Tayyip Erdogan nur selten zu hören ist. Natürlich ist es schwer, bei einer Katastrophe diesen Ausmaßes von Anfang an alles richtig zu machen, gar noch bei einem Beben in einer abgelegenen Region des Landes wie Van.

Zuerst kommt der Staat – dann der Bürger ?

Wieso aber hat die Regierung die angebotene Hilfe aus dem Ausland zunächst dankend abgelehnt? Über die Beweggründe wurde hin- und herspekuliert. Manche meinten die Regierung habe nach furchtbaren Versagen des Staates beim Erdbeben 1999 nun unter Beweis stellen wollen, dass sie es diesmal besser macht, die Krise im Griff hat. War das der Beweggrund? Das wäre fatal, denn es bedeutete: Nach wie geht es zuerst darum, was für den Staat richtig und geeignet erscheint, erst dann kommen die Bürger. Keiner mag sich vorstellen, dass etliche Menschen mehr oder früher mit modernen Ortungsgeräten und zusätzlich geschulten Bergungstrupps aus den Trümmern hätten geborgen werden können.

Inzwischen ist klar, nicht einmal die Zelte reichen aus, von Decken und Heizungen ganz zu schweigen. Dabei ist die Zahl der vom Erdbeben betroffenen Menschen in der dünn besiedelten Region Van noch durchaus überschaubar.

Wo sind die knapp 30 Mrd TL (umgerechnet rd 12 Mrd Euro) geblieben, die der Staat als sog. „Erdbebensteuer“ seit 1999 eingenommen hat ? Darauf angesprochen erklärte der Finanzminister Mehmet Simsek, Steuern die unter einem bestimmten Namen eingezogen werden, würden natürlich nicht nur für diesen Zweck ausgegeben. Das “steht auch im Widerspruch zu den internationalen Budget-Gepflogenheiten”, meint er ohne mit der Wimper zu zucken, will sagen: die in Europa, machen das ja auch so. Es scheint nicht einmal klar, wieviel Geld unter dem Namen “Erdbebensteuer” bisher tatsächlich eingenommen wurde: Die Angaben schwanken zwischen 29 und 47 Mrd TL (11,6 - 18,8 Mrd Euro)

Was hat Vorrang?

Offensichtlich ist jedenfalls, keiner der Verantwortlichen hat dem Thema Erdbeben bisher eine hohe Priorität eingeräumt. So hängt die Stadtverwaltung des Istanbuler Stadtteils Beyoglu Transparente über die Strasse „Du zahlst die Farbe, wir zahlen das Gerüst !“ (wenn einer sein Haus neu anstreichen lässt). „Die Stadt soll schöner werden!“ Dagegen gibt es keinen Cent oder Kurus vom Staat oder der Stadt, wenn man von einem Fachmann prüfen lässt, ob das Gebäude erdbebensicher ist, in dem man wohnt. Im Gegenteil, die Fachfirmen und Universitäten wollen allein für den ersten Schritt einer solchen Untersuchung bis zu 12 tsd TL (knapp 5.000 Euro). Wer also nur wissen will, ob er die Handwerker rufen soll, um sein Haus erdbebensicher zu machen, der muss schon im ersten Schritt bis zu 10.000 Euro ausgeben. Kein Wunder, dass wenig geschieht.

Im Februar 2007 hatte die Regierung von Tayyip Erdogan den „Nationalen Erdbebenrat“ per Regierungsdekret aufgelöst, ein Expertengremium, das der Politik und der Verwaltung für Massnahmen bei der Erdbebenvorsorge fachlich zu Seite stand. Im August 2008 verkündete der Abgeordnete der Regierungspartei AKP aus Yalova (am Marmarameer ) in der regierungsnahen Zeitung Yeni Safak, das Parlament werde nun eine „Forschungskommission Erdbeben“ gründen. Das Ziel dieser Kommission sei es nicht, „die Zahl der Opfer bei einem Erdbeben zu verringern, sondern Opfer zu verhindern“.

19 Millionen tödliche Fallen

Was hat diese Kommission bisher gemacht? Gibt es sie überhaupt? Ein Bericht von ihr wurde nie veröffentlicht. Auch bei der Strukturreform der Regierung vor wenigen Monaten wurde das Thema Erdbeben nie genannt. Keiner weiss, ob es zumindest so etwas wie einen „Erdbebenbeauftragten“ der Regierung gibt. Bekannt ist nur, dass erst zwei Tage nach dem Erdbeben in Van ein Krisenstab zur Koordinierung der Hilfe für die Erdbebenopfer eingerichtet wurde.

2009 legte dafür die türkische Ärztevereinigung einen Bericht vor. Sie hatte die öffentlichen und privaten Kliniken in 74 von 81 Bezirken des Landes untersucht und die Beschäftigten dort befragt. Auf die Frage, ob sie auf einen Ernstfall wie ein Erdbeben vorbereitet seien, sagten 78,7 % der Beschäftigten in den öffentlichen Krankenhäusern und 51,5 % der Angestellten in den privaten Kliniken: Nein sie seien nicht vorbereitet. Bis dahin hatte es nach diesem Bericht in rd 65 % aller Kliniken noch nie eine Übung zu einem Erdbeben gegeben. In Istanbul gab es vor 5 Jahren, 2006, die erste und bisher einzige grosse Übung in Sachen Erdbeben.

2006 hatte der Istanbul Oberbürgermeister Kadir Topas auch wortreich einen „Erdbebenplan“ vorgestellt. Es müssten allein im Istanbuler Stadtteil Zeytinburnu rund 2.300 Gebäude abgerissen werden, weil sie für die Bewohner zur tödlichen Falle werden könnten. Ausserdem würden von den 479 Brücken und Viadukten in Istanbul 20 abgerissen und neu errichtet. Schliesslich werde an mindestens 16 Stellen der Erdgasleitungen in Istanbul bei einem Erdbeben Feuer ausbrechen, wenn vorher keine Schutzvorrichtungen anbringt. „Vertraut uns!“ war damals seine Losung.

Radikale Massnahmen

Statt heute nun zu erklären, was er bisher unternahm, wird seine Wortwahl radikaler. Er werde jetzt „radikale“ Massnahmen zum Schutz der Bevölkerung ergreifen. Sein Chef, Ministerpräsident Tayyip Erdogan hatte vorgelegt: „Auch wenn wir deswegen Stimmen bei den Wahlen verlieren, alle Schwarzbauten werden jetzt abgerissen!“, hatte er 4 Tage nach dem Erdbeben von Van in Ankara erklärt.

Jeder fordert nun radikale Massnahmen. Leider aber gehörte das schon immer zum Ritual der Verantwortlichen nach einem Erdbeben.

Auch „harte Strafen“ gegen die Bauherren werden wieder gefordert. Eigentlich kennt die Türkei strenge Bauvorschriften. Trotzdem sind beim Erdbeben 1999 64.000 Gebäude wie Kartenhäuser eingestürzt. Mehr als 17.000 Menschen kamen ums Leben. Von den Bauherren dieser Häuser aber sind außer einem praktisch alle ohne Gefängnisstrafe davonkommen. Schon im Jahr 2007 waren 563 dieser Prozesse eingestellt, weil Verfahrensfristen überschritten waren. Noch nicht eingestellt sind dagegen die Verfahren der Justiz gegen die Hinterbliebenen der Opfer des Erdbebens, die gegen die Bauherren geklagt hatten. Die Gerichte wollen von diesen Hinterbliebenen nämlich nun die Verfahrenskosten eintreiben.

Worüber niemand spricht

Doch es fehlt weniger an neuen Vorschriften und Gesetzen, es fehlt vor allem an einem effektiven Staatsapparat, der bereits geltenden Gesetze durchsetzen und kontrollieren will. Dabei geht es nicht um den einen oder anderen Fall von Bestechung oder Bestechlichkeit. Es geht um ein grösseres Problem. 2 Millionen Gebäude müssten allein in Istanbul baulich verändert werden, um sie erdbebensicher zu machen- Landesweit gehe es um 19 Mio Gebäude, so ein Bericht des Umwelt- und Wohnungsbauministeriums. 67 % davon seien sog. Schwarzbauten. Wie konnten die hochgezogen werden? Über Nacht entsteht heute kein Gebäude kein zusätzliches Stockwerk mehr.

Wie kann es sein, dass der Staat das Rauchverbot in weiten Bereichen des öffentlichen Lebens von heute auf morgen durchsetzt – aber bei den Erdbebenvorschriften auch über Jahrzehnte nicht wesentlich vorankommt. Was hat da Vorrang? Darüber spricht niemand. Noch immer arbeiten gut ein Drittel aller Beschäftigten ohne jede Versicherung, obwohl die gesetzlich vorgeschrieben ist. Nur 30 % der Autofahrer haben eine KFZ Versicherung, obwohl die gesetzlich Pflicht ist. Nur 25 % aller Haus- und Wohnbesitzer haben eine Erdbebenversicherung, obgleich solch eine Versicherung gesetzlich verpflichtend ist - in der Region Van waren es gerade mal 9 %.

Nach dem Erdbeben ist vor dem Erdbeben. Allein seit 1999 gab es 31 mittelschwere und schwere Erdbeben in der Türkei , alle mit einer Stärke über 5,0 auf der Richterskala. In einer gemeinsamen Erklärung der Stadtverwaltung von Bursa und der Vereinigung der Stadtverwaltungen in der Marmararegion vom 27.10. wird daran erinnert: Ein großes Erdbeben der Stärke 7.0 und mehr wird vor Istanbul erwartet. Wenn man jetzt einfach weitermache wie bisher, dann gehe bei solch einem Erdbeben nicht Istanbul unter, dann gehe die Türkei unter.