Schwierige erste Wochen für das Parlament und die Regierung Erdogan nach der Wahl. Viel Getöse um die Weigerung etlicher neuer Abgeordneten, den Eid auf die Verfassung zu leisten; Umwerfendes zur Kurdenfrage – und viel drängende außenpolitische Fragen.

 

 In den Flüchtlingslagern an der türkisch-syrischen Grenze werden zur Zeit 158 Schwangere aus Syrien betreut. 5 mal haben die Eltern in den Zelten dort ihren Neugeborenen den Namen „Reccep Tayyip“ gegeben, so wie der alte und neue Regierungschef in Ankara heisst.

 

Soweit die guten Nachrichten für den Ministerpräsidenten Reccep Tayyip Erdogan. Schlechte Nachrichten gibt es weit mehr. Die Unruhen in Syrien erschüttern inzwischen die ganze Region. Während Assad-Anhänger westliche Botschaften attackieren, stehen sich türkische und syrische Soldaten auf Rufweite gegenüber. Ein auch nur versehentlich abgegebener Schuss könnte gar einen Grenzkonflikt zwischen beiden Ländern provozieren.

Währenddessen kann in der türkischen Hauptstadt das Parlament auch rund 5 Wochen nach der Wahl noch nicht normal arbeiten. Zunächst hatte sich ein Drittel der Abgeordneten geweigert, den Eid auf die Verfassung abzulegen – ein bisher einmaliger Vorgang.

Selbstmordversuche

Der Regierungschef versuchte, wie so oft, erst einmal mit dem Kopf durch die Wand. „Sollen sie doch (wegbleiben), es geht auch ohne sie wie geschmiert“, wird er zitiert – und dann verlas er letzte Woche sein Regierungsprogramm: Neben der Verfassungsreform war da noch die Lösung der Kurdenfrage, eine Justizreform, die Bekräftigung: Wir wollen EU Mitglied werden, bis hin zum Versprechen: Wir Schaffen Arbeitsplätze und entwickeln ein wettbewerbsfähiges türkisches Autos.

Doch wie soll das gehen mit diesem Parlament? Es gibt in Ankara neben der Regierungspartei AKP nur eine rechtsnationalistische Partei (MHP) mit Ansichten aus den vergangenen Jahrzehnten, eine Kurdenpartei (BDP), die sich ausschlieslich mit den Fragen der Kurden im Südosten des Landes - befasst und die grösste Oppositionspartei ( Republikanische Volkspartei CHP ), die sich gerade in politischen Selbstmordversuchen übt.  

Von wegen Demokratie

Die CHP will angeblich sozial und demokratisch sein. Trotzdem liess sie zwei mutmassliche Putschisten, die lt Anklage das Parlament abschaffen wollten, auf ihrer Liste kandidieren. Doch sie sitzen in Untersuchungshaft und das zuständige Gericht will die beiden nicht freilassen. Zuerst erklärte der Parteichef der CHP, Kemal Kilicdaroglu: Wir akzeptieren die Entscheidung der Justiz. Dann entschied er plötzlich wieder anders: 134 Abgeordnete der CHP boykottieren die Vereidigung, bis sie frei sind. Eine Debatte darüber liess er nicht einmal unter den neu gewählten Abgeordneten zu.

Die beiden mutmasslichen Putschisten sitzen noch heute. Kilicdaroglu aber entschied wieder einmal ganz anders. Er unterschrieb eine Erklärung mit der Regierungspartei AKP. In der stand lediglich der lapidare Satz, es sei wünschenswert, dass alle gewählten Abgeordneten ihren Eid ablegen können. Statt nun wenigstens darüber mit seiner Fraktion zu sprechen, liess der CHP Chef seinen Abgeordneten eine SMS schicken: Bereithalten zur Vereidigung. Soviel zum Thema Demokratie. Nun sind zwar alle CHP Abgeordneten vereidigt, aber nicht einmal die Spaltung dieser Partei scheint inzwischen ausgeschlossen.

PHP HOAuch die 35 Abgeordneten, die der Kurdenpartei nahestehen, hatten bis zum Redaktionsschluss die Vereidigung boykottiert. Auslöser war eine Entscheidung der Hohen Wahlkommission. Die hatte einen ihrer Kandidaten offiziell zur Wahl zugelassen – aber nach der Wahl befunden, er dürfe sein Mandat aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht wahrnehmen. Ausserdem haben sie dessen Mandat auch noch der Regierungspartei AKP zuerkannt. Soviel zum Thema drängende Justizreform.

Revolutionäres

Dabei entwickelt sich hinter dem Getöse um die Vereidigung im Parlament in Sachen Kurdenfrage schier Revolutionäres. Ein der Regierung nahestehender höchst anerkannter Journalist veröffentlicht einen Bericht, wie man „die PKK entwaffen“ könne. Dabei schlägt er vor, die Aktionen der PKK nicht mehr Terrorismus sondern einen „Aufstand“ zu nennen. Die Regierung müsse Öcalan offiziell als Gesprächspartner anerkennen und der PKK den Weg freimachen, sich als politische Partei zu betätigen. Für solche Ansichten wäre der Autor noch vor wenigen Jahren sofort im Gefängnis gelandet. Und heute? Ein paar matte Bemerkungen der Rechtsnationalisten im Parlament dazu – das war’s.

Gleichzeitig lässt der PKK Führer Öcalan über seine Anwälte verbreiten, er sei auch zu einer schriftliche Vereinbarung mit der Regierung über die Lösung der Kurdenfrage bereit. Schliesslich habe man habe sich mit der Regierung geeinigt, eine unabhängige „Friedenkommission“ für den Südosten des Landes zu gründen. Auch dazu weit und breit kein Widerspruch. Wie nebenbei empfiehlt er den Kurden noch, endlich ihren Eid abzulegen – und sich an einer verfassungsgebenden Kommission zu beteiligen. Kurz: Auch hier wird es wohl in Bälde eine Lösung geben.

Viel schwerer lösbar sind die aussenpolitischen Fragen. Mitte der Woche erscheint der EU Erweiterungskommissar Stefan Füle in Ankara. Am Wochenende trifft sich in Istanbul die Libyen Kontaktgruppe. Der türkische Aussenminister Ahmet Davutoglu war Anfang der Woche in Teheran, vor allem um den Gesprächskanal zu Syriens Präsident Assad offen zu halten. Israel versucht sich mit einer Annäherung an die Türkei, der armenische Staatspräsident sagt der BBC, er hoffe endlich auf bessere Beziehungen mit Ankara und über Zypern soll auch noch ernsthaft verhandelt werden. Genügend Paukenschläge für die ersten Wochen der Regierung Erdogan.