Die Türkei stimmt in einem Referendum über zwei Dutzend Änderungen der Verfassung ab. Doch ein Verständigung über die Verfassungsreform fand nicht statt – stattdessen trafen sich alle Parteien zu einem unwürdigen Machtpoker.

 

Am nächsten Sonntag bleiben alle Bars und Diskos geschlossen, tagsüber gibt nirgends Alkohol zu kaufen – und auch das „Tragen von Waffen“ ist verboten. So sind die Regeln am Bosporus, wenn gewählt wird. Diesmal wird über rund zwei Dutzend geänderte Verfassungsartikel abgestimmt. Die hatte die Regierungspartei AKP mit der geringst möglichen Mehrheit durchs Parlament gebracht, deshalb müssen sie jetzt in einem Referendum vom Wähler bestätigt werden.

Inhaltlich ist die Verfassungsreform nicht der grosse Wurf. Mehr Rechte für den türkischen Staatsbürger sind eher homöopathisch dosiert (Recht auf Tarifvertrag: Ja, Streikrecht: Nein; Recht des Einzelnen, sich an das Verfassungsgericht zu wenden; Einrichtung einer unabhängigen Beschwerdestelle für den Bürger (Ombudsmann); Abschaffung des Privilegs des Militärs, sich nur vor Militärgerichten verantworten zu müssen usw. Jedoch ist jeder kleine Schritt besser als das Verharren in einer Rechtsordnung, die 1982 die Putschgeneräle in Ankara ausarbeiten liessen.

Die gute Nachricht für die Regierung ist: Die Verfassungsänderung wird beim Referendum wohl eine knappe Mehrheit finden. Die schlechte Nachricht für die Türkei: Die Verfassung, die als Werteordnung das verbindende Element eines Landes sein sollte, wurde von den Parteien zum Instrument der Spaltung der Gesellschaft.

Die Regierungspartei AKP hatte vor der Abstimmung im Parlament nicht die geringste Anstrengung unternommen, einen gesellschaftlichen Konsens über die Verfassungsreform herzustellen. Nun ruft sie landauf und landab: Wer nicht dafür ist, ist kein Demokrat. Die Opposition lärmt dagegen: Nein! Dabei argumentiert kaum einer gegen die Verfassungsänderungen selbst, sondern was alles nicht geändert wurde bzw. was die Regierung mit der Verfassungsänderung eventuell beabsichtigen könnte. Überträgt man das Ergebnis der letzten Wahlen (am 29. März 2009) auf die Parteien und ihre Haltung zum Referendum heute, so sind 47,3 % für Annahme der neuen Verfassung, 47 % sind dagegen.

Bei den Nein-Sagern ist eine schillernde Koalition vom linksradikalen Parteienrand bis zu den ultrarechten Grüppchen entstanden. Sie eint nicht das Nein zur Verfassungsreform, sondern das Nein zur AKP. Der neue Parteichef der grössten Oppositionspartei, Kemal Kilicdaroglu (Republikanische Volkspartei – CHP) erklärte die Abstimmung am Sonntag zum „Befreiungskrieg“ gegen die Regierungspartei AKP. Er ist gerade 4 Monate Oppositionsführer, nachdem sein Vorgänger (Deniz Baykal) durch eine Parteiintrige gestürzt wurde. Kilicdaroglus Karriere wird auch davon abhängen, wie viele Nein-Stimmen beim Referendum zusammenkommen. Er muss beweisen, dass man mit ihm besser Wahlen gewinnen kann, als mit seinem Vorgänger. Ginge es ihm um die Verfassung, hätte er eine Alternative vorgelegt Dazu aber gibt es keinen einzigen Satz.

Die Kurdenpartei (BDP) hatte zunächst eine Nein-Kampagne angezettelt. Doch als Umfragen zeigten, dass über 60 % ihrer Anhänger für die Verfassungsreform stimmen wollen, war sie plötzlich eher für ein „bedingtes Ja“. Vom PKK Führer Öcalan kamen widersprüchliche Weisungen. Schliesslich rief die BDP den Boykott des Referendum aus. Der BDP Bürgermeister der Bezirkshauptstadt im Südosten der Türkei, Diyarbakir (Osman Baydemir), erklärte gar, er werde zurücktreten, wenn in seiner Stadt mehr als 50 % am Referendum teilnehmen . Im übrigen soll die Partei damit gedroht haben, an jeder Urne einen ihrer Aufpasser zu postieren.

Wie absurd die Debatte geführt wird, demonstriert Murat Bozlak, einst Führers der 2003 verbotenen Kurdenparteien (HADEP): „Die neue Verfassungsänderung wird (...) einige Willkürtaten der türkischen Politik verhindern. Daher ist es besser, am 12. September (...) mit „Ja“ zu stimmen. Aber weil ich seit Jahren als Politiker mit meinen verehrten Freunden zusammen gearbeitet habe, trage ich die Entscheidung zum Boykott mit und werde mit „Nein“ stimmen“. Auch diesen Kurdenpolitikern geht es also weniger um die Verfassung als um eine Demonstration ihres Einflusses im Südosten.

Für die Regierung scheint das Verfassungsreferendum sowieso vor allem eine Art vorgezogene Parlamentswahl 2011. Sie konnte bislang trotz aller Kampagnen und Kundgebungen den Anteil der Ja-Stimmen kaum steigern. Sie wird „mit einem blauen Auge“ davonkommen, wenn nach dem 12. September etwa 55 % Ja-Stimmen ausgezählt werden, so die Wahlforscher. Wie war das beim letzten Referendum zu einer Verfassungsänderung ? 2007 liess die AKP Regierung darüber abstimmen, ob der Staatspräsident künftig direkt vom Volk gewählt werden soll. Trotz wütender Nein-Kampagnen und Boykottaufrufen der Opposition nahmen 67,5 % der Wähler an der Abstimmung teil, 69 % stimmten mit Ja.

Noch sind nach den letzten Umfragen rund 10% der Wähler „unentschieden“, ob bzw. wie sie am 12. September abstimmen. Einige werden wohl am Sonntag zu Hause bleiben – und sich vom unwürdigen Machtpoker abwenden, den alle Parteien über dem Referendum zur Verfassungsänderung losgetreten haben.