Nichts ist mehr in der Türkei so wie zuvor, seit das Verfassungsgericht vor kurzem eine Verfassungsänderung (Kopftuch an den Universitäten) aus „inhaltlichen Gründen“ nicht zugelassen hat. Jetzt prüft die Staatsanwaltschaft, ob die Regierungspartei AKP verboten werden soll, weil angeblich sie auf kaltem Weg eine islamische Republik Türkei einführen will.

 

Das ist die Lage: Ehemalige Generäle werden in Handschellen abgeführt, weil sie einen Putsch vorbereitet haben sollen, der Generalstaaatsanwalt wirft der Regierungspartei AKP vor, auf kaltem Wege die islamische Republik Türkei einzuführen und der Sprecher der Regierung erklärt vor dem Verfassungsgericht, wenn seine Partei verboten wird, dann drohe das Land auseinanderzubrechen, während die Zinsen auf eine Rekordhöhe steigen, um das Geld ängstlicher ausländische Anleger im Land zu halten. Der Countdown läuft – aber keiner weiss, wie lange. Das türkische Verfassungsgericht könnte bereits Ende Juli / Anfang August sein Urteil zum Verbotsantrag gegen die Regierungspartei AKP verkünden, oder erst im Januar nächsten Jahres. Ähnlich gross ist auch die Bandbreite der möglichen Urteile, denn es geht keineswegs nur um eine Entscheidung, ob die Partei des Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan verboten wird oder nicht.

So könnte das Gericht die AKP auch lediglich „verwarnen“ und zur „Strafe“ alle staatlichen Zuwendungen streichen. Schon das würde die Partei empfindlich treffen, denn die Organisation ist kein einheitlicher Block, eher ein Sammelsurium verschiedenfarbiger Flügel, die bisher gerade auch durch finanzielle Zuwendungen zusammengehalten wurden. Auch wenn sich die Partei dann durch Spenden über Wasser halten könnte, die Regierung müsste zumindest wichtige Elemente ihrer Wirtschaftspolitik ändern – weg von der Privatisierung der Staatsbetriebe und der freien Marktwirtschaft, wieder hin zu staatlich gelenkter Protektionswirtschaft im grossen Stil, um damit murrende Parteikader stille zu halten.

Härter allerdings träfe die Partei ein Urteil, das ein „Verbot parteipolitischer Betätigung“ für einzelne Personen ausspricht, ohne die Regierungspartei AKP insgesamt zu verbieten. Die Staatsanwaltschaft fordert ja für 70 Funktionäre der Partei dieses „verbot“, davon sind 28 Abgeordnete, unter ihnen auch Regierungschef Tayyip Erdogan. Trifft ihn dieses „Verbot“, dann wird er vorgezogene Neuwahlen anstreben, denn als „unabhängiger Kandidat“ darf er erneut zur Wahl antreten. Dazu muss er aber einige Abgeordnete in seiner Partei finden, die „freiwillig“ zurücktreten, denn erst wenn 30 Sitze im Parlament nicht besetzt sind, sind vorgezogene Neuwahlen möglich. Wie er dann aber als „Unabhängiger“ die Partei und die Fraktion quasi vom Hinterzimmer aus führen wird, ist noch vollkommen offen, und lässt schon jetzt ein absurdes Politiktheater vermuten.

Wird die Partei gar verboten und einige Funktionäre mit einem „parteipolitischen Betätigungsverbot“ bestraft, wird Tayyip Erdogan auf jeden Fall versuchen, so rasch wie möglich vorgezogene Neuwahlen anzusetzen, denn die Zeit arbeitet nicht für ihn sondern gegen ihn. Seit die alte kemalistische Elite in der Justiz offen die Messer gegen die islamisch-konservative AKP wetzt, wächst die Unsicherheit im Land. Die ausländischen Investoren zucken zurück, statt rund 9 Mrd USD (1. Quartal 2007) kamen im gleichen Zeitraum dieses Jahres nur noch gut 3 Mrd USD ins Land, Inflation und Arbeitslosigkeit steigen, das Wirtschaftswachstum geht zurück und die Wähler lasten das nicht nur den alten kemalistischen Eliten an. Auch wenn sich in einer Umfrage über 70 % gegen ein Verbot der AKP ausgesprochen haben, gut 40 % halten die AKP mitverantwortlich für die Krise am Bosporus. Bei den verschiedenen Politbarometern erhielt die AKP im vergangenen Monat zum ersten Mal zwischen 8 und 13 % weniger Zustimmung als bei den Wahlen im Sommer letzten Jahres.  

Aber selbst auf diesen letzten, den für die Regierungspartei AKP und das ganze Land schwerwiegendsten Urteilsspruch, kann die AKP zunächst nur warten. Nicht einmal einen Zeitplan kann die Regierung für die verschiedenen Alternativen entwerfen, denn auch der hängt alleine vom Verfassungsgericht ab. Natürlich sagen viele seit Wochen, dann werde die AKP einfach den Namen der Organisation in PAK ändern und neu gegründet werden. Bereitet Tayyip Erdogan aber jetzt schon diese Neugründung vor, gibt er sich im Kampf gegen den Verbotsantrag bereits geschlagen. Tut er nichts, gibt er zu, dass er handlungsunfähig ist und in allem vom Spruch des Verfassungsgerichtes abhängt. Inzwischen kursieren sogar Gerüchte, die AKP bereite inzwischen die „Übernahme“ einer der existierenden Parteien vor. Tatsächlich waren ja bei den letzten Wahlen im Sommer 25 Parteien angetreten, nur drei von ihnen spielen eine massgebliche Rolle im politischen Geschehen des Landes. Die „Übernahme“ einer der „unbedeutenden“ Parteien, die bereits bei Wahlen angetreten war, ersparte der AKP zumindest das langwierige rechtliche Prozedere, die „Wahlfähigkeit“ nachzuweisen, das ihr bei einer Neugründung bevorsteht.

Selbst aber wenn das Gericht den Verbotsantrag der Staatsanwaltschaft rundweg ablehnte: Nichts ist mehr in der Türkei so wie zuvor, seit das Verfassungsgericht vor kurzem eine Verfassungsänderung (Kopftuch an den Universitäten) aus „inhaltlichen Gründen“ nicht zugelassen hat. Tatsächlich hätte sie diese Verfassungsänderung auch nach den Artikeln des türkischen Grundgesetzes nur auf ihre formelle Korrektheit prüfen dürfen, denn immerhin war diese Verfassungsreform von mehr als Zweidritteln der Abgeordneten im Parlament beschlossen. Die Mehrheit der Richter aber hat den Beschluss des Parlaments schlicht zurückgewiesen. Damit hat faktisch eine kleine Gruppe Juristen die politische Herrschaft im Land übernommen. Sie ist weder gewählt, noch muss sie sich irgend jemandem gegenüber für die Folgen ihres Handelns verantworten. Sie nimmt sich aber nun das Recht heraus, das letzte Urteil über die Beschlüsse der Regierung und des Parlamentes zu fällen – und es gibt keine Instanz, bei der man gegen ihre Entscheidungen Einspruch erheben könnte. Damit ist die Gewaltenteilung zwischen Regierung und Justiz beseitigt und die repräsentative Demokratie ausgehebelt. Der Countdown läuft – auch in der Frage, wie lange ein Land eine solche Situation aushalten kann, ohne dauerhaft Schaden zu nehmen.