Anmerkungen zum Wahlergebnis vom 22. Juli 2007 – es wirft seine Schatten auf die Wahl des Staatspräsidenten voraus, die in wenigen Wochen stattfinden wird.

 

 

 Auf den ersten Blick scheint alles beim Alten: Die „Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) hat zwar mit 341 von 550 Sitzen im Parlament eine bequeme Mehrheit, um alleine regieren zu können. Sie hat aber keine Zweidrittelmehrheit, um den Präsidenten alleine bestimmen zu können. Damit ist auch nach dieser Wahl das gleiche Problem auf der Tagesordnung, das ursprünglich zu diesen vorgezogenen Wahlen geführt hat.

Aber das stimmt nur auf den ersten Blick. Tatsächlich hat sich sehr viel geändert. Die AKP ist mit dieser Wahl zur Volkspartei der Türkei geworden. Mit ihrem erstaunlichen Zugewinn von 12,2 % (2002: 34,3 % ; 2007: 46,5 % ) hat sie ausserdem das höchste Wahlergebnis einer Regierungspartei in den letzten Jahrzehnten eingefahren. Selbst Turgut Özal erreichte 1983 nur 45,1 % der Stimmen bei seinem historischen Wahlsieg.

Und damit nicht genug. Zum ersten Mal seit rund 50 Jahren hat eine Regierungspartei bei der zweiten Wahl mehr Stimmen erhalten als beim ihrem ersten Wahlsieg. Bisher haben alle Regierungsparteien verloren, wenn sie sich nach einer Legislaturperiode erneut der Abstimmung stellten. Die AKP hat 6 Millionen Stimmen hinzugewonnen ( 2002: rund 10 Mio; 2007: rd 16 Mio ) Das ist ein klarer Beweis für die Zustimmung zu ihrer Politik. Es ist ausserdem ein wesentlicher Unterschied zum Wahlergebnis der AKP im Jahre 2002. Damals hatte die Partei vor allem davon profitiert, dass der Wähler der etablierten Parteien ganz und gar überdrüssig waren. Gepunktet hat die Regierung vor allem beim Thema Wirtschaft, mit der Bekämpfung der Inflation, der Konsolidierung des Staatshaushalts und der allgemeinen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die zu einem unerwartet kräftigen Aufschwung geführt haben. Ausserdem hat sie die Bedingungen für den gesetzlich Versicherten in der Gesundheitsversorgung verbessert. Das Thema EU hat im bei diesem Wahlkampf praktisch keine Rolle gespielt.

So deutlich wie der Sieg der AKP ist die Niederlage des Militärs bei diesen Wahlen, auch wenn das für einen westlichen Leser merkwürdig klingen mag, denn natürlich stand kein General zur Wahl. Trotzdem: Keine andere „Oppositionspartei“ war so präsent in diesem Wahlkampf wie das Militär. Nun hat der Wähler ausgerechnet der Partei einen imponierenden Sieg geschenkt, der die Armee kurz zuvor offen das Misstrauen ausgesprochen hatte. Das ist auch eine schallende Abfuhr an die Einmischung des Militärs in die Politik. Die Intervention der Generäle bei der Wahl des Staatspräsidenten hat ja zu diesen vorgezogenen Parlamentswahlen geführt. Es ist im Übrigen die zweite Absage an die Armee durch den Wähler. Schon ihrem Aufruf zu Grossdemonstrationen gegen die PKK während des Wahlkampfes war praktisch keiner gefolgt. Gegen eine Partei aufzutreten, die fast 47 % der Stimmen erhalten hat, wird der Generalität jetzt ausserdem schwerer fallen als zuvor.

Verloren hat auch die „Republikanische Volkspartei“ CHP, die sich inzwischen von einer quasi ‚linken’ zu einer rechtsnationalistischen Organisation gewandelt hat. Sie war die dieses Mal im Wahlbündnis mit der Partei Bülent Ecevits (DSP) angetreten und hat trotzdem praktisch nicht dazu gewonnen. (2002: 19,4 %; 2007: 20,9%)   Der Wähler hat das undemokratische Taktieren der CHP vor allem bei der Präsidentschaftswahl nicht honoriert. Es ist eine herbe Lektion für die Partei, die – statt parlamentarische Oppositionsarbeit zu leisten - sich zum einzigen Siegelbewahrer der Prinzipien des Staatsgründers Atatürk ausgerufen hatte. Auch das Fischen mit rechtsradikalen Parolen hat der CHP nicht geholfen. Schon vor den Wahlen hatte die Financial Times eine Umfrage veröffentlicht, wonach selbst Stammwähler der CHP erklärt haben, sie würden dieser Partei zwar ihre Stimme geben, aber sie hofften, die AKP bleibe an der Macht, schon um die weitere Konsolidierung der Wirtschaft des Landes nicht zu gefährden.

Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die CHP aus dieser Niederlage die erforderlichen programmatischen und personellen Konsequenzen ziehen wird. Das undemokratische Parteiengesetz, das den Parteivorsitzenden praktisch absolute Macht in der Partei sichert, verhindert seit langem die dringend nötige Erneuerung der Parteienlandschaft am Bosporus. Das ist einer der drängendsten Mängel der türkischen Demokratie. Nach wie vor gibt es weder auf der rechten Mitte noch links von der AKP eine berechenbare parlamentarische Alternative zur Partei Tayyip Erdogans. Das wird auf Dauer die türkische Demokratie beschädigen. Das ist der Wermutstropfen im Sieg der AKP: Zweifellos verdankt sie einen Teil ihre Wahlerfolges auch der Tatsache, dass der Wähler keine Alternative sah.

Zu den Siegern gehören auch die Rechtsradikalen von der „Partei der Nationalen Bewegung“ MHP (Grauen Wölfe) die von 8,4 % (2002) auf 14,3 % (2007) zulegen konnte. Sie hat mit 5 Mio Stimmen die Zahl ihrer Wähler glatt verdoppelt und wird als dritte Partei ins Parlament einziehen. Dass in einer Periode der Reformen nach westlichem Muster wie der seit 2002 und in einer Zeit komplizierter aussenpolitischer Herausforderungen auch der Flügel der radikalen Gegner solcher Reformen zulegt, ist nicht verwunderlich. Trotzdem: Der deutliche Stimmenzuwachs der MHP wird eine besonnene Politik im Parlament vor allem mit Blick auf den Nordirak erschweren.

Verloren hat dagegen die kurdennahe Partei DTP. Sie kann zwar dieses Mal 23 Abgeordnete ins Parlament schicken, aber statt 6,2 % der Stimmen (2002) erreichte sie bei dieser Wahl nur 3,7 %. Gerade noch in vier Wahlkreisen im Südosten der Türkei erhielt sie mehr Stimmen als die Regierungspartei AKP. Damit haben die Wähler vor allem ihre mangelhafte Politik in den Kommunen hart abgestraft. Immerhin hat das Land nun eine Chance, die so genannte „Kurdenfrage“ innerhalb des Parlaments zu lösen – statt nur mit militärischen Mitteln. Als 1991 schon einmal kurdennahe Abgeordnete ins Parlament eingezogen waren, wurde diese Chance vertan. Die Abgeordneten wurden 1994 wegen angeblicher Unterstützung der PKK vor Gericht gestellt. Die meisten sassen 10 Jahre im Gefängnis. Nun will die DTP vor allem für die Schaffung eines föderalen Systems in der Türkei eintreten. Leyla Zana, eine jener Abgeordneten des Jahres1994, hat diese Forderung vor wenigen Tagen auf einer Wahlkundgebung erhoben. Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft deshalb erneut gegen sie, denn das wird als Angriff auf die Einheit des Staates gewertet.

Enttäuscht wurden auch die, die schon das Zeitalter der „unabhängigen Kandidaten“ ausgerufen hatten. Ausser den Kandidaten der DTP wurden gerade 3 der unabhängigen Kandidaten ins Parlament gewählt, weniger als 2002. Die Wähler haben sich stattdessen eher für die „Lager“ entschieden. Das Wahlergebnis ist so auch Ausdruck der tiefen Spaltung des Landes. Auch wenn die AKP einen überzeugenden Wahlsieg errungen hat, die „weissen Türken“ konnten ebenso rund 40 % der Stimmen auf sich vereinigen. Der Machtkampf zwischen den „weissen“ und den „schwarzen“ Türken (siehe Text vom 18.07.2007) ist keineswegs ausstanden.

Nach der Wahl des Parlamentspräsidenten bleiben dem neuen Parlament nur wenige Wochen, um den Staatspräsidenten zu wählen. Nach den neuen Regeln des Verfassungsgerichtes müssen 367 bzw 368 Abgeordnete beim ersten Wahlgang des Staatspräsidenten anwesend sein. Jede Fraktion also kann allein durch ihre Abwesenheit die Wahl eines Kandidaten, den sie nicht möchte, verhindern. Kommt es bei der Aufstellung des/der Kandidaten nicht zu einem Kompromiss, bleibt das Land auch bis Ende August ohne ordentlich gewählten Staatspräsidenten, würde das Parlament sogar aufgelöst – und es stünden erneut Wahlen an.