Wer ist der richtige Kandidat für das Amt des Präsidenten der Republik Türkei? Die Bewerber für das höchste Amt im Staate könnten nicht unterschiedlicher sein. Was nur wenige sehen: Eine Zeitwende kündigt sich an am Bosporus.

 

Früher wäre auch Bülent Arinc ein guter Präsidentschaftskandidat für die Türkei gewesen. In der Türkei kennen ihn alle, und reden oft über ihn. Wer ihn außerhalb der Türkei nicht kennt: Er ist stellvertretende Parteivorsitzende der Regierungspartei AKP, der gerade durch das Sommerloch westlicher Medien wandert, weil er in einer Ansprache über Anstand und Moral lautes Lachen von Frauen in der Öffentlichkeit für unschicklich oder auch unislamisch hielt. Bülent Arinc kann frei reden und sagt vieles, was sich zitieren lässt – wie: Das Leben besteht nicht nur aus Sex und Alkohol, oder: Die Polizei geht gegen protestierende Studenten unverhältnismäßig gewalttätig vor, oder: Der Staat kann auch die Armee einsetzen, um die (Gezi-) Proteste zu beenden, oder: Wir sind Freunde der EU, oder: Die EU ist für die Türkei kein Muss! - er wäre früher ein guter Präsidentschaftskandidat gewesen.

Der Vorgänger des noch amtierenden Präsidenten, Abdullah Gül, ein Jurist mit Namen Necdet Sezer, konnte nicht einmal eine Rede vom Blatt ablesen, und viele fanden an ihm nur besonders, dass er kein ehemaliger General und kein Parlamentarier war, bevor er bis 2007 Staatspräsident der Republik Türkei wurde.

Ein vornehmer Intellektueller

Ekmeleddin Ihsanoglu wäre nicht nur – er ist einer der Kandidaten für das Amt des Präsidenten in Ankara. Auch er kann auf fast jedes Thema in freier und meist auch feinsinniger Rede eingehen. Allerdings kennen ihn selbst in der Türkei nur wenige, denn er lebte die vergangenen 10 Jahre als Vorsitzender der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) in Saudi-Arabien. Erst seit Anfang des Jahres ist er zurück am Bosporus. Einige spotten sogar über ihn mit dem Witz: Die hohe Wahlkommission werde jedem, der den Vornamen dieses Kandidaten zweimal fehlerfrei hersagen könne, doppeltes Stimmrecht geben.

Dabei hat er das nicht verdient. Er ist ein honoriger Intellektueller, 73 Jahre alt, mit dutzenden Stationen als Akademiker und Diplomat in der arabischen Welt, im Westen und bei der UNO. Er wird für seine Arbeit als Vorsitzender der OIC vor allem deshalb gelobt, weil er in 10 Jahren den Namen und das Logo der Organisation änderte und einige Kommissionen einrichtete. Wer darüber schmunzelt, sollte bedenken: Es handelt sich bei der OIC um eine Organisation mit 56 Mitgliedsstaaten, die untereinander oft spinnefeind sind. Er hat es immerhin als erster an der Spitze dieser Organisation 10 Jahre lang ausgehalten. Das spricht für Verhandlungsgeschick erster Güte. Ihsanolgu ist auch kein islamisch-religiöser Betonkopf, sondern ein Konservativer, der sich auch für Frauen- und Kinderrechte einsetzt, für Menschenrechte und Demokratie. Er will auch eine „vernünftige“ Lösung der Kurdenfrage. Nur wenn er von Journalisten mit Fragen gepiesackt wird, wie er z.B. zur Schwulenorganisation LGBT stehe, fällt ihm ein, dass es schon spät ist und er seinen Flieger nicht verpassen darf.

Die größte Oppositionspartei im Parlament, die CHP, haben Ekmeleddin Ihsanoglu gemeinsam mit den Rechtsnationalisten von der MHP als Kandidaten gegen den Regierungschef Tayyip Erdogan aufgestellt. Der kandidiert ja auch für das Präsidentenamt. Aber „gemeinsam“ geht bei der CHP ja eigentlich nichts. Ein Teil der CHP will den Kandidaten auch 10 Tage vor der Wahl nicht. Der Großteil der alevitischen Glaubensgemeinschaft am Bosporus lehnt den sunnitischen Ekmeleddin Ihsanoglu ebenfalls ab, das sind wohl noch einmal 10 Mio Wähler, die ihm nicht ihre Stimme geben. So hofft er auf die Stimmen der Wähler, die Tayyip Erdogan um jeden Preis verhindern wollen - auch um den Preis einer Stimme für Ekmeleddin Ihsanoglu, den kaum einer kennt, und von dem keiner weiß, was er als Präsident der Republik Türkei vorhat und der auf solche Fragen Floskeln aufsagt wie: Ich will den Rechtsstaat erhalten (erhalten??).

Ein Macher

Die Zeiten sind vorbei, in denen ein präsidialer Festredner gewählt wurde, der ab und an den Staatsgründer Atatürk und den demokratischen Rechtsstaat Türkei loben darf oder auf Anweisung des Militärs sein Veto gegen ein Gesetz einlegt. Der Staatsgründer Atatürk ist aus den Festreden fast völlig verschwunden und die Armee muckt nicht mehr auf.

Jetzt ist ein Macher gefragt, kein vornehmer Vorsitzender internationaler Konferenzen. Denn der kommende Präsident ist der erste, der direkt vom Volk gewählt wird und nicht von den Abgeordneten des Parlamentes. Das ist ein Einschnitt in der türkischen Politik, den man später sicher „historisch“ nennen wird. Dass die Opposition in dieser Situation keinen anderen Kandidaten als Ekmeleddin Ihsanoglu aufstellt, zeigt nur: Sie haben entweder im ganzen Land keinen einzigen Macher, der präsentabel wäre - oder sie sind immer noch nicht in der Gegenwart angekommen. Wahrscheinlich ist es noch schlimmer: Es ist beides.

Es war übrigens die CHP, die ursprünglich vehement für die Direktwahl des Präsidenten durch das Volk eintrat. Nur das sei demokratisch ! Tatsächlich ging es ihr damals, 2007, aber nur darum, die Wahl von Abdullah Gül durch die Mehrheit der Abgeordneten der AKP im Parlament zu verhindern. Als Tayyip Erdogan daraufhin sagte: Aber gerne! - war die CHP plötzlich wieder dagegen. Solch eine Reform könne das Parlament gar nicht beschließen. Also kam es zu einem Referendum, und die Reform war beschlossen.

Kein Wunder also, dass die Mehrheit der türkischen Wähler den noch amtierenden Regierungschef Tayyip Erdogan für den richtigen Kandidaten hält. Auch dem deutschen Wähler genügte der schlichte und schlagende Satz Angela Merkels vor der letzten Bundestagswahl: Sie kennen mich.

Was war die Türkei 2002 und was ist sie heute? Dabei ist der türkische Wähler kein hoffnungsloser Optimist. Nur noch knapp 40 % (Umfrage Mai 2014) glauben, dass es auch in Zukunft weiter bergauf geht. Vor einem Jahr waren es noch knapp 50 %. Auch die Skandale der letzten Monate und Wochen und die wachsende Unruhe in einem Teil der Jugend haben ihre Spuren hinterlassen. So erhielt die AKP bei den Kommunalwahlen im März 1 Million Stimmen weniger als bei den Parlamentswahlen im Juni 2011. Doch spricht man nicht mit westlichen Journalisten, kritischen Intellektuellen und traditionellen Kemalisten, deren Eltern schon der CHP ihre Stimme gaben, sagen viele: Natürlich macht Erdogan auch einiges, was ich nicht gut finde. Aber glaubst du, die Türkei hätte in den letzten 10 Jahren denselben Aufschwung genommen, wenn die CHP oder die MHP regiert hätte? (siehe auch Artikel unter Innenpolitik: Die Methode Erdogan)

Ein Kandidat „mit den besten Aussichten“

Fast hätte ich vergessen den dritten Kandidaten für das Amt des Staatspräsidenten zu erwähnen: Selahattin Demirtas, der Vorsitzende der „Demokratischen Volkspartei“( HDP). Bis vor kurzem war er noch Vorsitzender der Kurdenpartei BDP. Kurz nach den Gezi-Protesten gründete er - ohne ein Wort der Erläuterung – die HDP, und ernannte die neue Partei zur Partei der Gezi-Demonstranten. Er ist für eine „neue Türkei“ ein „neues Regierungssystem“ „Vielfalt und bürgerliche Freiheiten“ und Abdullah Öcalan, der PKK Führer, ist für ihn ohne Frage der „Anführer der kurdischen Bewegung“. Die Umfragen sagen ihm fünf bis acht Prozent der Stimmen voraus. Er sagt – ganz ohne Ironie: „Ich bin der Kandidat mit den besten Aussichten zu gewinnen“. In der einen oder anderen Stadt im meist von Kurden bewohntem Südosten der Türkei kann das sogar stimmen.

Der erste vom Volk gewählte Präsident der Türkei wird aber Tayyip Erdogan heißen. Das wird, wie gesagt, ein „historischer Einschnitt“ in der Geschichte der Republik am Bosporus. Mit ihm wird es ein neues Regierungssystem geben, wahrscheinlich auch eine neue Verfassung. Ob sich das dann zum Guten oder eher zum Schlechten wendet, steht auf einem ganz anderen Blatt.