Auf der Zielgeraden des Präsidentschaftswahlkampfes in der Türkei klagen die Gegenkandidaten von Tayyip Erdogan vor allem, sie würden unfair behandelt. Überall in den Medien nur Erdogan – sie hätten nicht einmal Geld für Wahlwerbung. Erklärt das den absehbaren Wahlausgang?

 

Plakate, Wimpel, Flaggen, Lautsprecherwagen, die alles übertönen, Transparente, die 20 Stockwerke hohe Wohnblocks überdecken, auf allen Fernsehkanälen stundenlange Wahlkampf- Debatten - das ist am Bosporus genauso wie bei jeder Wahl fast überall. Geklagt haben Erdogans Gegenkandidaten über die ungleichen Bedingungen im Wahlkampf: Überall in den Medien stundenlang nur Erdogan, und allenfalls ab und zu ein paar Minuten über die Mitbewerber der Oppositionsparteien, Ekmeleddin Ihsanoglu und Selahattin Demirtas. Die Wahlbeobachter der OECD rügten auch, es gebe keine klare Trennung bei der Regierungspartei AKP zwischen den Aktivitäten der Regierung und den Wahlkampf.

All das mag das Wahlergebnis ein wenig beeinflussen Es reicht aber nicht aus, um zu erklären, wieso Tayyip Erdogan wahrscheinlich schon im ersten Wahlgang zum 12. Präsidenten der Republik Türkei gewählt werden wird. Dem noch Ministerpräsidenten Erdogan ist ein ziemlich perfekter Wahlkampf gelungen.

Das Land liegt wird von zwei Kriegen umklammert – aber Tayyip Erdogan konnte ungestört auf den Wirtschaftsaufschwung verweisen, Großprojekte einweihen wie die Schnellzugverbindung Istanbul-Ankara oder die nächsten Großprojekte ankündigen wie den dritten Flughafen in Istanbul, den zweiten Tunnel unter dem Bosporus, die Wasserpipeline nach Zypern, die Lösung der Kurdenfrage und den Bau einer Moschee mit den höchsten Minaretten der Welt.

An über 1000 Kilometern seiner Aussengrenzen toben heftige Schlachten, Ankara wird Zug um Zug in zwei Kriege hineingezogen. Trotzdem konnte Erdogan ungestört den Krieg zwischen der Hamas und Israel zum beherrschenden Wahlkampfthema stilisieren, den Krieg, der die Türkei gar nicht unmittelbar betrifft . Wer am Bosporus Israel kritisiert, dem ist der Beifall der Mehrheit sicher – und hinter der Zornesfalte über den so unmenschlichen israelischen Staat ließen sich allerlei außenpolitische Fehler und Dummheiten der Vergangenheit und Gegenwart verstecken.

Funktioniert hat das aber nur, weil die Opposition dem nichts entgegenzusetzen wusste. Wer wählt schon einen Kandidaten, der sich auf der Zielgeraden des Wahlkampfes vor allem darüber beklagt, dass er nicht fair behandelt wurde.

Keine Aktionen oder Konzepte von der größte Oppositionspartei, der CHP, zum Beispiel zu den wuchtigen Problemen mit den rund 1,5 Millionen Flüchtlingen aus Syrien, die mittlerweile in vielen Städten des Landes zu Protesten in der Bevölkerung führen (siehe Artikel: „Wir wollen keine Syrer!“). Und wie soll sich Ankara zum Krieg im Irak verhalten? Zwei der Kommandanten der ISIS seien Türken, hört man aus türkischen Geheimdienstkreisen. die ISIS droht, Istanbul "zu befreien". Wird Ankara den faktischen Zerfall des Irak dulden, unterstützen, zu verhindern versuchen? Was wenn nach den syrischen Flüchtlingen nun auch zehntausende Iraker über die Grenze in die Türkei fliehen?

Keine Antwort auf die Frage: Wie hält es Ankara mit Russland und der EU angesichts des Krieges in der Ukraine? So lautstark Israels Militäraktionen im Gaza-Streifen kritisiert wurden, so schweigsam sind alle zum Krieg in der Ukraine. Unwidersprochen darf jetzt auch noch die türkische Landwirtschaft hoffen. Sie will die Lebensmittel nach Moskau exportieren, die Russland aus den EU Ländern nicht mehr haben will.

Kein Verkehrskonzept, außer einem Nein zu dieser Brücke und zu jenem Flughafen. Keinen Plan zum Schutz der Umwelt, obwohl die Wasserwerke am Bosporus wegen der anhaltenden Trockenheit schon verschiedentlich den Wasserhahn zudrehen mussten. Keine Kampagne zu dem entscheidenden Thema der nächsten Jahre: Welche Verfassung erhält das Land? Welche Stellung soll ein Präsident in der Republik Türkei einnehmen, der zum ersten Mal vom Volk und nicht vom Parlament gewählt wird?

Stattdessen leistet sie sich die CHP drei Tage vor der Wahl ein Schmierentheater, bei dem der ehemaligen Vorsitzende Deniz Baykal erklärt, man könne dem amtierenden Vorsitzenden Kemal Kilicdaroglu nicht trauen. So eine Partei soll den nächsten Präsidenten stellen und das Land regieren?

Lediglich die hohe Wahlkommission fiel der Regierungspartei AKP einmal in den Arm. Sie hat einen Werbespot von Tayyip Erdogan verboten, weil der eine allzu aufdringlich betende Bäuerin zeigt. So werde verbotenerweise mit religiösen Gefühlen Politik gemacht. Im Ergebnis aber haben deshalb wahrscheinlich nun besonders viele diese Wahlwerbung über das Internet heruntergeladen und aufmerksam angesehen.

Während der Kandidat der Kurdenpartei HDP kaum 10 % der Stimmen erhalten wird, verspricht der gemeinsame Kandidat der zwei größeren Oppositionsparteien (CHP und MHP), Ihsanoglu, eine Überraschung am Wahltag. Wahrscheinlich aber ist nicht einmal er selbst überrascht, wenn er es nicht in die zweite Wahlrunde schafft. ( siehe auch Artikel: „Der richtige Kandidat“)