Überraschend war das Wahlergebnis eigentlich nicht - vielleicht nur für Tayyip Erdogan. Mit einem „versöhnlichen Kurs“ des neuen Staatspräsidenten sollte keiner rechnen – eher mit der Einführung einer „neuen Art von Demokratie“.

 

Überrascht von diesem Wahlergebnis war wahrscheinlich der Wahlsieger Recep Tayyip Erdogan. Knapp 52 % ist ein sehr gutes Ergebnis, und alle seine politischen Gegner, die inständig gehofft hatten, man könne ihn zumindest in einen zweiten Wahlgang zwingen und damit schwächen, sind jetzt wieder kleinlaut. Aber der frisch gewählte 12. Präsident der Republik Türkei, Tayyip Erdogan ist seit fast 40 Jahren in der Politik. Er sieht die Schwächen dieses Sieges.

Er hat kaum eine Stimmen mehr erhalten, als seine AKP im März bei den Kommunalwahlen - und das, trotz der unübersehbaren Vorteile im Wahlkampf (siehe auch Artikel: Ziemlich bester Wahlkampf) und obwohl fast 3 Millionen Wahlberechtigte mehr abstimmen durften als vor 5 Monaten. Schiesslich konnten zum erstem Mal auch alle ‚Auslandstürken’ an der Wahl teilnehmen. Doch die waren an diesem Wahlrecht nicht sonderlich interessiert. Nicht einmal 9 % gaben ihre Stimme ab, in Israel z.B. waren es gerade 43 von 4603 Wahlberechtigten, obwohl der Krieg zwischen Israel und der Hamas das bestimmende Wahlkampfthema von Tayyip Erdogan war. Hier hat sich Erdogan gründlich verkalkuliert, ein Politiker, der bislang unschlagbar treffsicher schien, wenn es darum ging Stimmungen seiner Wähler zu erkennen und zu nutzen.

Außerdem war die Wahlbeteiligung mit 77 % so niedrig, wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr, obwohl es laut Gesetz eine Wahlpflicht gibt, und jeder, der seine Stimme nicht abgibt, mit einer Strafe rechnen muss. Mehr als 12 % der Wähler, die sich im März noch an den Kommunalwahlen beteiligt hatten, blieben bei den Präsidentschaftswahlen einfach zuhause. Auch das wird dem Wahlsieger zu denken geben. Tayyip Erdogan ist auf dem Gipfel seiner Karriere als Politiker in der Türkei angekommen – aber das heisst auch: Höher geht’s nicht mehr, allenfalls noch abwärts. Die Krisen und Kriege an den Grenzen des Landes werden immer komplizierter und bedrohlicher und drücken auch auf die ohnehin nicht mehr so glänzenden Wirtschaftsdaten. Das sind keine guten Bedingungen fürs Regieren.

Manche am Bosporus rechnen gar damit, dass Tayyip Erdogan vorgezogene Neuwahlen für das Parlament anstösst, die eigentlich erst kommendes Jahr stattfinden sollen. Angesichts dieses Wahlergebnisses und der unberechenbaren Entwicklungen in den kommenden Monaten scheint das nicht abwegig. Jetzt zumindest scheint ein Wahlsieg der AKP auch bei Parlamentswahlen noch sicher. Tayyip Erdogan braucht aber die Mehrheit im Parlament , sonst kann er nicht „durchregieren“. Außerdem werden die großen Oppositionsparteien in den kommenden Monate damit beschäftigt sein, die Schuldigen für ihre herbe Wahlniederlage auszumachen und zu quälen.

Mit einem „versöhnlichen“ Kurs des neuen Staatspräsidenten aber sollte keiner rechnen. Tayyip Erdogan ist unter Druck – und auf Druck reagiert er hartleibig. So hat er das in seiner langen Karriere als Politiker gelernt, so hat er schon viele kritische Situationen gemeistert. Islamisierung der Türkei? Vielleicht werden noch mehr islamisch-konservative Verhaltenregeln verbindlich werden als bisher - eine Art Scharia aber wird es in der Türkei nicht geben. Vor allem wird der neue Staatspräsident zunächst das System mehr und mehr vervollkommnen, das es ihm erlaubt, seine Kritiker und politischen Gegner in Schach zu halten oder auszuschalten.

Schon vor knapp zwei Jahren erklärte er in einer Rede in Konya, Gewaltenteilung sei Mist. Gewaltenteilung sei das entscheidende Hindernis für einen Regierungschef, „seiner Nation zu dienen“. Seither den hat den direkten Zugriff der Regierung auf die Justiz erleichtert. Das will er perfektionieren. Die Regierung hat sowieso das Sagen bei Polizei und Armee - wo Widerspruch droht, wird aufgeräumt (siehe Artkel Innenpolitik: Polizisten in Handschellen). Das Parlament dagegen hat immer weniger Möglichkeiten, die Regierung zu kontrollieren. Die Kontrolle der Regierung durch die Presse ist sowieso schon erheblich eingeschränkt. Selbst die Unabhängigkeit der Zentralbank wurde bereits zahlreiche Erlasse, Gesetze und Verordnungen wieder beschnitten.

Am Ende könnte das Land vor einem neuen Art von „Demokratie“ stehen, einer „Demokratie“, die nur noch das Wahlrecht kennt. Danach ist Schluss, Schluss mit Kritik, Kompromiss oder Kontrolle. Dann regiert der Ministerpräsident oder Staatspräsident – bis zur nächsten Wahl. Das ist es, was er unter einer Präsidialdemokratie versteht. Das alles ist keine „geheime Agenda“, Tayyip Erdogan vertritt das seit langem offen. Noch im Juni kritisierte er all jene scharf, die meinten, in einer Demokratie seien Wahlen nicht alles. Genau das Gegenteil sei richtig. Was das heisst, werden die kommenden Monate zeigen.