Wer ist Ahmet Davutoglu, der designierte neue Regierungschef in Ankara? Nur ein Ja-Sager zu Tayyip Erdogan- oder ein Mann mit eigenen Visionen? Und was ist mit dem noch amtierenden Staatspräsidenten Abdullah Gül?

Ahmet Davutoglu wird neuer Regierungschef in Ankara. Die Istanbuler Börse reagierte darauf nur wenig. Ein leichter Rückgang um ein halbes Prozent, der US-Dollar und der Euro werden ein bisschen teurer, kein Paukenschlag und kein Befreiungsschlag oder wie die Rating Agentur Moodys vor einigen Tagen formulierte: Politisch und wirtschaftlich bleibt die Türkei in unsicherem Fahrwasser.

Ahmet Davutoglu hat diesen Kurs mit abgesteckt. Der Politikprofessor aus der streng islamisch konservativen Stadt Konya in Zentralanatolien, der auch Deutsch, Englisch und Arabisch spricht, ist mehr als ein geistloser Gefolgsmann Tayyip Erdogans. Er hat viele wichtige Wendungen in der Politik der AKP Regierung seit 2002 mitformuliert. Newsweek nannte ihn 2010 gar den neuen „Kissinger“ der Türkei. Die damals wichtigste außenpolitische Fernsehsendung am Bosporus (der 32. Tag) hatte zuvor 6 ehemalige türkische Außenminister gebeten, Ahmet Davutoglus Politik zu bewerten. Ihr einmütiges Urteil: 8 von 10 Punkten.

Immerhin hatte Davutoglu zu jener Zeit erfolgreich Gespräche zwischen Tel Aviv und Damaskus über die seit 1967 von Israel besetzten Golanhöhen vermittelt. Auch die Kontakte Ankaras zur Hamas könnten sich „ für den Friedensprozeß als gut erweisen“, hiess es damals aus Ankara. Die türkische Regierung hatte sich außerdem aktiv für den Frieden im Libanon eingesetzt und wollte gar eine „Union des Mittleren Ostens“ schaffen. Im August 2010 wurde in Istanbul über eine Freihandelszone ‚Türkei-Libanon-Syrien-Jordanien’ verhandelt.

Vision und Wirklichkeit

Drei Jahre zuvor, 2007, hatte Davutoglu in einem Vortrag beim Bergedorfer Gesprächskreis der Körber-Stiftung formuliert: „Die Stabilisierung des Mittleren Ostens ist eine der größten Herausforderungen für die europäische Außenpolitik der Zukunft. Die Türkei kann dabei Europas wichtigster Partner werden – wenn sich die EU-Länder zur Nutzung des türkischen Potenzials entschließen.“ Ankara könne die Politik der EU im Mittleren Osten durch eine Politik der Konfliktfreiheit unterstützen. Diese Friedenspolitik solle der Unsicherheit und dem Chaos in der Nachbarschaft entgegenwirken. Außerdem gefährden „Spannungen mit den Nachbarn (...) die eigene Sicherheit. Ohne Sicherheit aber lässt sich die Freiheit der Bürger nicht durch innenpolitische Reformen stärken.“

Seither sind gerade 7 Jahre vergangen. Selten sind Vision und Wirklichkeit in so kurzer Zeit so weit auseinandergebrochen. Statt ‚Null Probleme’ nun ‚Null Partner’ – formulierte ein Journalist vor wenigen Tagen. Inzwischen sieht sich Ankara im gesamten Mittleren Osten von Feinden umgeben - in Bagdad, in Kairo, in Damaskus und in Tel Aviv. Im Frühjahr dieses Jahres werden im Internet gar Aufzeichnungen gepostet, auf denen er zu hören sein soll, wie er mit dem Geheimdienstchef Hakan Fidan und dem Generalstabschef über Möglichkeiten und Folgen eines Einmarsches der türkischen Armee in Syrien erörtert. Dazu ermittelte das türkische Forschungsinstitutes TESEV in 16 Staaten des Mittleren Ostens: Die Zustimmung der Menschen dort zur Türkei sank von 78 %  im Jahre 2011 auf 59 %  2013.

... auch ohne EU ?

Auch die Haltung zur Mitgliedschaft der Türkei in der EU hat sich seither unüberhörbar gewandelt. Noch im Sommer 2010 erklärt Ahmet Davutoglu die Mitgliedschaft der Türkei in der EU zum „wichtigsten Ziel türkischer Aussenpolitik“. Wenige Monate zuvor hält er in einer Rede der Denkfabrik European Center in Brüssel gar einen EU Beitritt der Türkei im Jahre 2015 für zu spät. Drei Jahre später, im Frühjahr 2013, meint er aber: Die Türkei könne auch ohne EU. Wenn die 27 Mitgliedsstaaten ihre Blockadehaltung gegenüber Ankara nicht aufgeben, könne die Türkei das Ziel einer Mitgliedschaft in der EU auch aufgeben. Vor drei Monaten nun kündigte er ein neues Sicherheitskonzept für die Aussengrenzen der Türkei an – und schloss dabei jede Zusammenarbeit mit der EU Grenzsicherungsorganisation Frontex ausdrücklich aus.

Innenpoltisch war Ahmet Davutoglu nie ein liberaler Geist. Der englischsprachigen Zeitung „Turkish Review“ diktiert er schon Ende 2010: „Wir werden wahrscheinlich unser monokulturelles, nationalstaatliches Verständnis vom Islam stärken müssen.“

Als sich der orthodoxe Patriarch Bartholomäus zur gleichen Zeit beklagt, die griechische Minderheit in der Türkei fühle sich als ‚Bürger zweiter Klasse’, weil sie nicht die gleichen Rechte wie türkische Staatsbürger genieße, hält er das für ungerecht und inakzeptabel. Öffentlich entschuldigen muss er sich gar, weil der Mord an dem armenischen Journalisten Hrant Dink aus seinem Ministerium offiziell mit den Worten kommentiert wurde, Dink haben schließlich auch Volksverhetzung und Aufstachelung zum Hass betrieben und sei deshalb zurecht von einem türkischen Gericht verurteilt worden.

Kein liberaler Geist

Während der Gezi-Proteste versuchte er zunächst einen mäßigenden Ton, die Sorgen der Demonstranten in Sachen Umwelt und Stadtentwicklung seien auch die Sorgen der AKP. Aber er verteidigt auch offensiv die Vermutung des Regierungschefs Erdogan, die Proteste seien im Ausland angezettelt gegen eine aufstrebende Türkei.

Defizite in Sachen Demokratie sieht Ahmet Davutoglu in der Türkei nirgends. Kritik aus Washington oder Brüssel wegen der Einschränkung der Pressefreiheit beantwortet er mit dem Satz: Die Türkei sei in Sachen Pressefreiheit besser als viele andere. Das Regime in der Türkei sei auch nicht autoritärer als das in den USA. Als Bundespräsident Gauck bei seinem Staatsbesuch im April Pressefreiheit und Gewaltenteilung in der Türkei anmahnt meint er gar: Wenn Gauck in die Türkei komme und falsche Behauptungen über die Türkei aufstelle und meine, er sorge sich über die Zukunft der Türkei, „dann gehen wir in jede deutsche Stadt und erklären angesichts der Neonazis dort, wir sorgen uns um die Zukunft Deutschlands“.

Trotzdem: Ahmet Davutoglu ist kein leicht reizbarer Haudrauf. Er ist eher ein ruhiger Politiker mit scharfem Verstand. Er ist kein Ja-Sager zu Erdogan, er teilt die Vision Erdogans: „Die Türkei ist 2023 - zum hundertsten Jahrestag der Republikgründung – eine globale Macht“, und: „Ohne die Türkei kann die EU kein Global Player werden“. Ihr Konzept dahin ist bislang allerdings krachend gescheitert. Gleichzeitig hat Davutoglu nie die Führungsrolle Tayyip Erdogans in Frage gestellt. Ein kluger Kopf – ohne Ehrgeiz, die Nummer eins zu werden, das qualifiziert ihn für Erdogan zum neuen Ministerpräsidenten und Parteichef.

Risiko

Ohne Risiken ist die Rochade für Erdogan und die AKP nicht. Erdogan hat die Partei bislang mit eisernen Hand auf seinem Kurs gehalten. Als Staatspräsident muss er aus der AKP austreten – und über Ahmet Davutoglu Partei und Fraktion zusammenhalten. Die anstehenden Parlamentswahlen geben den beiden zunächst die Möglichkeit, unzuverlässige Abgeordnete auszutauschen, denn in der Türkei bestimmt der Parteichef, wer zu Wahlen als Kandidat antreten darf.

Auch in der Bevölkerung muss Ahmet Davutoglu noch in Sachen Zuspruch aufholen. Als das Forschungsinstitut MetroPoll im Mai dieses Jahres die Türken fragte, wer nach Tayyip Erdogan Ministerpräsident werden soll, wählten 13,4 % den noch amtierenden Staatspräsidenten Gül auf Platz 1. Davutoglu kam erst auf Platz vier mit gerade mal 5 %. Dabei ist allgemein bekannt, dass Gül immer wieder gegen Erdogan grummelt.

Auch zum Abschied liess sich Gül noch eine Stichelei einfallen. Er erklärte einen Tag vor der AKP Parteivorstandssitzung, Außenminister Ahmet Davutoglu werde der neue Ministerpräsidenten. Dabei ist Gül als Staatspräsident nicht einmal Mitglied der AKP ist und seine Aufgabe es ganz gewiss nicht ist, einem Beschluss des Parteivorstandes oder des Parteitages vorzugreifen und den künftigen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten auszurufen. Gül geht aus dem Amt, wie er regierte: Er knurrt ab und an gegen den Alleinherrscher Tayyip Erdogan, aber er kommt ihm nicht ernsthaft in die Quere. Gül weiß, wer offen gegen Erdogan antritt, der muss bereit sein, die Partei zu spalten und eine neue Partei aufzubauen. Abdullah Gül aber ist eher ein Diplomat, der es ruhig mag, kein Rebellenführer und Workaholic.