Die Türkei kann das Flüchtlingsproblem kaum noch bewältigen. Die Hilfe aus den Ländern der Europäischen Union ist erbärmlich. Mehr und mehr Flüchtlinge aus Syrien machen sich nach Westen auf.

Die kleine Hervin hat zum Betteln einen der guten Plätze erwischt: Vor einem Bauzaun auf der großen Einkaufsstraße von Istanbul, der Istiklal-Caddesi. Hervin ist 8 Jahre alt. Sie bläst auf einer Plastikflöte, weil sie so besser auf sich aufmerksam macht und die Vorbeieilenden mehr Geld in den Karton vor ihr werfen.


Wenn es gut läuft, sammelt sie in 10 Stunden schon mal bis zu 7 Euro. Damit ernährt sie die meiste Zeit ihre zwei Geschwister und ihre Eltern. Hervin friert. Sie trägt Plastiksandalen ohne Strümpfe, wenn sie flötet, kniet sie ohne Unterlage auf dem kalten Steinboden. Sie hat ständig Kopfweh, seit sie vor einem halben Jahr mit ihrer Familie aus Syrien in die Türkei kam, beim Arzt aber war sie seither noch nicht.


Auch auf der Istiklal-Caddesi ist sie ständig auf der Flucht. Sie wird von den anderen Straßenhändlern auf der Istiklal vertrieben und muss auch vor den blauen Fahrzeugen des Ordnungsamtes wegrennen, denn Betteln ist natürlich verboten. Einmal war sie zu müde und wurde erwischt. Die Beamten nahmen ihr die Flöte weg. Sie weinte kurz, dann kaufte sie mit einem halben Tagesverdienst eine neue Flöte.


Nun hat ein türkischer Fernsehsender sogar ein Nachrichtenfilmchen über einen kleinen Bettler aus Syrien in der Istanbuler Einkaufstrasse gesendet, ein Programm, das um Mitgefühl für die Flüchtlinge wirbt. Das ist neu. Noch bis zum Frühsommer berichteten die türkischen Medien fast täglich nur von wütenden Bürgern, landauf landab marschierten Demonstranten mit der Parole „Wir wollen keine Syrer!" durch die Strassen. Später las man noch die Meldung, etliche syrische Flüchtlinge kehrten aus der Türkei wieder in den Bürgerkrieg nach Syrien zurück, weil sie die ständigen Übergriffe durch die Türken nicht mehr aushielten.


Die Türkei war auf einen Ansturm von Flüchtlingen aus Syrien nicht vorbereitet, denn sie hatte die Lage in ihrem Nachbarland vollkommen falsch eingeschätzt.


Vor knapp 3 Jahren, im Februar 2012, warf sich Ahmet Davutoglu (damals türkischer Außenminister, heute Regierungschef in Ankara) auf der 48. Internationalen Sicherheitskonferenz in München noch in die Brust: Ankara sei bereit, wenn nötig „auch das ganze syrische Volk" in der Türkei aufzunehmen. Damals versorgten die türkischen Behörden gerade einmal 20.000 Flüchtlinge aus Syrien, und der damalige türkische Staatspräsident Abdullah Gül verkündete siegessicher, der syrische Diktator Assad sei am Ende. Einen Monat später, im März 2012, kamen schon jeden Tag 1000 neue Flüchtlinge aus Syrien in die Türkei. Jetzt droht das  Flüchtlingselend die gesamte Region zu destabilisieren.


Heute leben fast 2 Mio am Bosporus, die meisten davon aus Syrien. Fast alle kommen „illegal" ins Land, weil die türkischen Behörden an den offiziellen Grenzübergängen nur noch Flüchtlinge mit einem gültigen Ausweis passieren lassen. Aber den haben die meisten nicht. Wer etwas Geld hat, bezahlt einen „Führer", der das 900 km langen verminte Grenzgebiet kennt. Wer kein Geld hat, versucht es auf eigene Faust. Amnesty International spricht in einem kürzlich veröffentlichten Bericht von 17 Flüchtlingen, die dabei von türkischen Grenzschützern erschossen wurden.


Viele kommen krank oder verletzt in der Türkei an. Türkische Krankenwagen haben allein seit Mitte September 770 Verwundete aus dem Grenzgebiet in Sicherheit gebracht. In der Grenzstadt Suruc wurden in dieser Zeit 20.000 Flüchtlinge behandelt, mehr als 1000 mit Schusswunden.


Nur etwa 220.000 werden in 22 Lagern versorgt, d.h. wohl mehr als 1,5 Millionen Flüchtlinge versuchen sich irgendwo in der Türkei durchzuschlagen – davon etwa 350.000 in Istanbul.


Nicht einmal die Hälfte lebt in einer menschenwürdigen Unterkunft. In Istanbul teilen sich meist 6 Personen einen Raum. Dabei gehören die schon zu den Glücklichen, denn kaum einer will einem syrischen Flüchtling eine Wohnung vermieten. Entsprechend steigen die Preise. Kostete vor 2 Jahren ein Raum noch umgerechnet 70 € im Monat, so will ein Vermieter jetzt etwa 180 €. Wer das Geld nicht aufbringen kann, schläft in der Ruine eines ehemaligen Gefängnisses oder auf der offenen Pritsche eines LKW – oder irgendwo unter einer Plastikplane. Noch katastrophaler ist die Lage in den grenznahen Städten. Die Region ist sowieso die ärmste der Türkei. Schon im Sommer gab es dort fast täglich Proteste der Einwohner: Wegen der Flüchtlinge stiegen überall die Mietpreise, es gebe weniger Arbeit – zu geringerem Lohn.


Die meisten Flüchtlinge verdingen sich als Tagelöhner, Tellerwäscher, Müllsammler - und verdienen am Tag zwischen 2 € und 10 €. Kaum einer erhält die Hälfte des gesetzlichen Mindestlohnes, schätzt der türkische Krisenstab. Ein Stadtteil von Adana werde mittlerweile ‚Aleppo' genannt, berichtete der dortige Gouverneur, weil dort viele Syrer aus Aleppo einen Laden eröffnet hätten. Ehemalige Rechtsanwälte aus Aleppo verkaufen dort jetzt Kaffee für gerade mal umgerechnet 5 Euro am Tag. Sie beklagen sich, dass täglich Kinder Dreck in ihre Geschäfte werfen und Banden von ihnen „Schutzgeld" verlangen. In Urfa wurden zwei syrische Kinder mit Steinen beworfen, weil sie ein Brot gestohlen hatten. Die CHP Abgeordnete Abgeordnete Sakine Öz hatte bereits im Sommer berichtet, reiche Araber würden junge Frauen und Kinder der syrischen Flüchtlinge kaufen. „ Die Frauen und Kinder werden offenkundig verkauft. Sie werden als Sex-Sklaven oder Sklaven-Arbeiter benutzt oder gegen Entgelt verheiratet".


Inzwischen versucht Ankara die Versäumnisse der vergangenen Jahre zu beheben. Regierung und Parlament haben eine Reihe von Gesetzen und Verordnungen erlassen, die den Flüchtlingen zumindest vorübergehend einen Aufenthaltsstatus gewähren. Damit soll kostenlose Gesundheitsversorgung, geregelte Arbeitssuche, Schulbildung für die Kinder möglich sein. Das aber gilt nur für die registrierten Flüchtlinge. Nach UN Angaben waren aber bis Anfang Oktober nur knapp 900.000 der rd 2 Mio Flüchtlinge von den türkischen Behörden erfasst.


Viele Flüchtlinge wissen nicht, wie man sich registrieren lassen kann, oder erfahren in Istanbul, dass man nur in einem Lager an der syrischen Grenze den nötigen Aufenthaltsschein erhält. Wer ihn endlich hat, ist in den zahllosen Gängen der türkischen Bürokratie oft hoffnungslos verloren, schreibt Amnesty International. Schließlich: Wie sollen 350.000 Kinder unterrichtet werden, die nicht einmal Türkisch können – in einem Land, dessen Bildungssystem jetzt schon hoffnungslos unterfinanziert ist.


Außerhalb der Region haben die Länder der EU und die USA nach UN Angaben bis Juli 2014 gerade mal 50.000 Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen, davon Deutschland 25.500 – die Schweiz 500- die USA 50. Seither steigen die Zahlen dort rasant. Das Land am Bosporus ist überfordert – und mehr und mehr Flüchtlinge machen sich auf Richtung Westen. Dabei hätte die EU Ankara wenigstens finanziell bei seinen Flüchtlingsproblemen helfen können. Aber auch diese Hilfe war bislang eher erbärmlich: Bislang hat die Türkei nach eigenen Angaben über 4 Mrd USD für die Versorgung der Flüchtlinge ausgegeben – und von der EU noch nicht einmal 500 Mio Euro an Hilfe erhalten.


Wenn die syrische Stadt Aleppo fällt, werden wohl noch einmal 1 bis 2 Millionen Syrer in der Türkei Schutz suchen - nicht nur für einige Monate, sie werden 10 oder 15 Jahre bleiben, sagen alle Fachleute. Selbst wenn – vielleicht schon in 5 Jahren – der IS besiegt sein sollte: Der Bürgerkrieg in Syrien ist damit noch lange nicht vorbei, und die meisten Städte und Siedlungen der Flüchtlinge sind vollständig zerstört.


Eine große Tageszeitung zeigte vor einigen Tagen ein Bild von einem kleinen syrischen Mädchen in Istanbul. Es kniet an einer Bushaltestelle hinter einem Bus - direkt vor dem Auspuff. Dort öffnet es sein Jäckchen und versucht sich so mit den Auspuffgasen aufzuwärmen. In Istanbul soll in den nächsten Tagen der erste Schnee fallen.