Kritik am Staatspräsidenten der Türkei, Tayyip Erdogan, und der Regierungspartei AKP gibt es genügend. Ja gibt es denn da keinen anderen? Keine Alternative?

Was sollte man bei einer "Bilanz 2014" vom Bosporus schreiben, was nicht längst jeder weiss. Das internationale Ansehen der Türkei hat gelitten. Außenpolitisch pflegt Ankara vor allem seinen Umgang mit Russland, Katar und der Hamas. Das Land hat einen Staatspräsidenten, Tayyip Erdogan, der mit Bemerkungen von sich reden macht, wie: Nicht Kolumbus, sondern Moslems haben Amerika entdeckt, oder: ein Grubenunglück mit 300 Toten ist nichts Besonderes, das hat es schon immer gegeben, oder: die Gleichberechtigung von Mann und Frau sei widernatürlich. Wer ihn gut findet, kann das frei und ungehindert sagen und schreiben und ihm sogar zujubeln, selbst wenn er schwul ist. Er sollte aber nicht rauchen und keinen Alkohol trinken.


Ja gibt es denn da keinen anderen?


Also sprechen wir über die Alternative zur Recep Tayyip Erdogan und der Regierungspartei AKP. Sprechen wir zum Beispiel über die größte Oppositionspartei, die Republikanische Volkspartei (CHP). Sie wurde einst vom Staatsgründer der Republik Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, gegründet. Heute stellt sie noch etwa 25 % der Abgeordneten im Parlament.


Seit 2010 ist Kemal Kilicdaroglu ihr Vorsitzender. Damals wurde er von Teilen der Partei als Brutus beschimpft, denn er war einst ein treuer Vasall seines Vorgängers Deniz Baykal. Dann aber wurde dieser durch die Veröffentlichung einiger widerwärtiger Schlafzimmer-Videos gestürzt – und Kemal Kilicdaroglu wurde CHP Chef. Er werde für die Partei bei den Parlamentswahlen 2011 mindestens 40 % holen, versprach er. Es wurden dann aber nicht einmal 26 %.


Den Anhängern des gestürzten Parteivorsitzenden gab das Auftrieb. Seither streiten sich die Partei-Flügel wie die Kesselflicker. Es gibt kaum eine politische Frage von Belang, bei der die Partei einen einheitlichen Standpunkt vertritt. Soll die Armee, wenn sie es für nötig hält, die Politik mit einem Putsch zur Räson bringen? Soll eine Angestellte bei den Wasserwerken ein Kopftuch tragen dürfen ? Zu jedem Thema hört man von der CHP zwei, drei oder auch noch mehr Standpunkte.


Vor wenigen Wochen z.B. hatte sich der stellvertretende Partei-Vorsitzende Sezgin Tanrikulu öffentlich im Namen der Partei für ein Massaker der Armee im Jahre 1937/38 an der Bevölkerung in der südostanatolischen Stadt Tunceli entschuldigt. Damals rebellierten die dort lebenden Kurden gegen die Regierung in Ankara. Die Armee des Staatsgründers Atatürk schlug die Rebellion brutal nieder und tötete dabei wahrscheinlich fast 10.000 Menschen. Zu jener Zeit war die CHP die einzige Partei im Land – und der Oberbefehlshaber der Armee, Ismet Inönü, wurde wenige Monate nach diesem Massaker zum „Unabänderlichen Parteivorsitzenden" der CHP gewählt.


Kaum hatte Sezgin Tanrikulu ausgesprochen, brach ein Sturm der Entrüstung in der Partei über ihn herein. Er habe das ehrenvolle Gedenken an den Staatsgründer Atatürk geschändet. Der Vorsitzende Kilicdaroglu müsse seinen Stellvertreter umgehend zurückpfeifen, ansonsten könne er nicht Vorsitzender der Partei bleiben. Als Detail sei noch erwähnt: Kemal Kilicdaroglu stammt selbst aus Tunceli. Wie fast immer verlief auch dieses Mal der Streit ungeklärt im Sande sich widersprechender Meinungen aus der Partei. Im gleichen Stil wurde noch wenige Tage vor dem Jahreswechsel der ehemalige Generalsekretär der CHP aus der Partei ausgeschlossen, ohne dass es für die Öffentlichkeit einen nachvollziehbaren Grund gegeben hätte.


Eine politische Initiative von Rang zu einem der wichtigen Probleme der Türkei ist aus der CHP nicht bekannt. Weder gibt es so etwas wie einen „10 Punkte Plan" zur Lösung des Zypern-Problems noch zur Kurdenfrage. Zum Kurdenproblems schwadronierte Kemal Kilicdaroglu lediglich, es brauche einen „Neuanfang in der Kurdenpolitik" und er forderte darüber eine „öffentliche Debatte", keine „Geheimverhandlungen". Dabei hindert ihn nicht einmal Tayyip Erdogan daran, diese Debatte zu führen.


Als im Juni die Forschungsgruppe MAK in der Türkei die Mitglieder der Parteien befragte, wen sie sich als Kandidaten für das Präsidentenamt wünschen, waren 70 % der AKP Mitglieder für ihren damaligen Vorsitzenden Tayyip Erdogan – aber nur 20 % der CHP Mitglieder für ihren Vorsitzenden Kemal Kilicdaroglu.


Beim Thema Korruption und Unabhängigkeit der Justiz bei den Ermittlungen gegen mutmaßlich bestechliche Politiker meldete die Partei gleich uneingeschränkt politische Insolvenz an: Statt selbst Politik zu machen, forderte sie die EU auf, am Bosporus nachdrücklicher auf der Unabhängigkeit der Justiz zu bestehen. Wieso das ? Vielleicht, weil die Partei bei den Kommunalwahlen im Frühjahr 2014 in Istanbul für das Amt des Oberbürgermeisters einen Kandidaten aufgestellt hatte (Mustafa Sarigül), den seine Kritiker - nach dem bekannten Mafiaboss aus Amerika - die türkische Ausgabe von Mr. Corleone nennen. Mustafa Sarigül war nämlich in der Vergangenheit immer wieder im Zusammenhang mit schrill schillernden Immobiliengeschäften ins Gerede gekommen.


Jetzt ermittelt sogar der Staatsanwalt gegen Mustafa Sarigül. Er wird beschuldigt, eine Bande angeheuert zu haben, um einen Bezirksbürgermeister in Istanbul mit dem Tode zu bedrohen. Sein Sohn, Emir Sarigül, sollte dessen Amt übernehmen. Es ist unwahrscheinlich, dass je geklärt wird, was an den Vorwürfen dran ist. Möglich ist auch, dass es sich lediglich um die Spitze eines innerparteilichen Machtkampfes handelt.


Seinen Wählern hatte Mustafa Sarigül übrigens versprochen, bei den Kommunalwahlen in Istanbul 42 % für die CHP einzufahren. Es wurden dann aber kaum mehr als 25 %, angesichts des Kandidaten und seiner Partei nicht einmal ein besonders schlechtes Ergebnis.


Dabei wäre der Eindruck falsch, die ganze Partei sei ein unfähiger, verkommener Haufen. Es gibt einige CHP Politiker, die mit lobenswerten Aktionen und Projekten für mehr Menschenrechte und Demokratie auf sich aufmerksam machen. Als Einzelkämpfer oder kleine Gruppe eher sozialdemokratisch orientierter Mitglieder innerhalb der CHP aber haben sie keine Aussicht, je in der Partei den Ton anzugeben. Deshalb glauben etliche Analysten am Bosporus, ohne eine Spaltung bzw. Neugründung dieser Partei, werde sie nie die nötige Kraft aufbringen, um als Alternative zur AKP Erfolg zu haben.


Neben dieser CHP gibt es außerdem noch knapp 60 politische Parteien in der Türkei. Davon sind neben der AKP und der CHP nur noch zwei Parteien im Parlament zu Ankara vertreten. Eine davon ist Kurdenpartei (BDP oder HDP) mit etwa 5 % der Parlamentssitze. Sie erhebt nicht einmal selbst ernsthaft den Anspruch, eine Alternative für das ganze Land zu sein. Eine andere ist die rechtsnationalistische MHP. In Deutschland war sie früher als rechtsextreme Organisation unter dem Namen „Graue Wölfe" bekannt. Sie stellt etwa 10% der Abgeordneten im Parlament und wird außer von ihren Parteianhängern praktisch nicht wahrgenommen.


Was Wunder also, dass Kenner der politischen Verhältnisse am Bosporus meinen, nicht Tayyip Erdogan oder die AKP sei das Problem des Landes, sondern die Opposition und ihr Zustand. Für die Kritiker der AKP sind das keine guten Aussichten für das Jahr 2015 – ein Jahr, in dem im Juni ein neues Parlament am Bosporus gewählt wird. (aktualisiert: 2.1.2014)