Auch am Bosporus verurteilen alle die Morde der Terroristen in Paris - aber Charlie wollen die meisten nicht sein. Geht das ?

 

Jeder von Rang in der Türkei hat inzwischen vor einem Mikrophon zu Protokoll gegeben: Der Terror von Paris sei eine abscheuliche Tat. Der türkische Staatspräsident Tayyip Erdogan kondolierte persönlich in einem Telefongespräch dem französischen Staatspräsidenten. Der türkische Regierungschef Ahmet Davutoglu nimmt an der Großdemonstration in Paris teil.


Trotzdem: Was da so Seite an Seite marschiert ist sich alles andere als einig, wogegen oder wofür man marschiert.


Wer die vergangenen Tage die Fernsehdiskussionen und Kommentare am Bosporus verfolgt hat, erfährt: Die Türkei sieht sich selbst vor allem als Opfer des Terrors. Paris liegt auch am Bosporus, heißt das Schlagwort.


Nicht zu unrecht: Erst gestern (10.1.) wurden drei Sprengsätze von der Polizei Einkaufszentren in Istanbul entschärft. Wer sie gelegt hat, ist nicht bekannt. Nur wenige Tage zuvor hatte sich eine Selbstmordattentäterin in einem Polizeirevier in die Luft gesprengt und dabei einen Beamten getötet. Ein Mitglied der linksradikalen Gruppe DHKP-C warf letzte Woche in Istanbul zwei Handgranaten auf Polizisten. Gut ein dutzend Terroranschläge mussten die türkischen Sicherheitskräfte im vergangenen Jahr aufnehmen.


Einig ist man sich in Paris also im Kampf gegen „terroristische Attentäter". Damit aber sind die Gemeinsamkeiten schon beschrieben. Man ist sich nicht einmal einig, wer ein Terrorist ist. Einen Tag nach der Demonstration in Paris erklärte Ahmet Davutoglu in Deutschland auf einer Veranstaltung der Körber-Stiftung: Die Hamas ist für mich keine Terrororganisation. Sie hat auch nie einen terroristischen Anschlag verübt.

 

Nach mehr als 10 Jahren AKP Herrschaft in der Türkei sind die meisten Meinungsmacher in den Medien islamisch-konservativ eingefärbt. Für sie ist der Kampf gegen Terroristen wie die in Paris vor allem dann von Bedeutung, wenn er das Leben der Muslime berührt.

 

So schreibt Ibrahim Tenekeci in der halbamtlichen AKP Zeitung Yeni Safak (9.11.), während des Balkankrieges seien in Sebrenica tausende Muslime ermordet worden. Den holländischen Soldaten, die diesem Massaker Gewehr bei Fuss zusahen, habe man später sogar Orden verliehen. Weltweit würden Millionen Muslime massakriert, ohne dass sich einer darum kümmere, aber wenn ein Christ getötet werde, sei das sofort eine Schlagzeile.

 

Der türkische Staatspräsident Tayyip Erdogan führt das weiter. Ebenfalls am 12.1. erklärt er in Ankara, die Demonstration in Paris sei schiere Heuchelei. Die Europäer sollten lieber was gegen die Übergriffe auf die Moscheen in Europa unternehmen. Schliesslich: Was habe der israelische Regierungschef Nethanyahu auf dieser Demonstration denn zu suchen. Das sei doch ein ausgemachter Staatsterrorist.

 

Ismail Kilicarslan schreibt ebenfalls in der Zeitung Yeni Safak: Wenn man spasseshalber sage, der Sohn des ehem. französischen Präsidenten Sarkozy sei Jude, dann sei das gleich Antisemitismus. Wenn zwei junge Türken - wie vor zwei Jahren geschehen - in Ausschwitz „Heil Hitler" ! rufen, dann würden sie sofort vor Gericht gestellt. Aber wenn einer wie Salman Rushdie den Propheten beleidige, dann gehöre das zur Meinungsfreiheit.


Tatsächlich findet man in den offiziellen Erklärungen aus der Türkei kein einziges Mal die Worte Meinungsfreiheit oder Pressefreiheit - oder gar den Hinweis, das seien Werte, die man verteidigen müsse.


Der Kolumnist der AKP nahen Zeitung Yeni Akit, Aburrahman Dilipak, meint gar, der Terror sei völlig inakzeptabel, aber man müsse auch feststellen, die Satire-Zeitschrift habe mit ihren Veröffentlichungen der letzten zwei Jahren geradezu eine „Einladung an den Terror" ausgesprochen.


Noch einen Schritt weiter geht der Abgeordnete der AKP aus der südostanatolischen Stadt Gaziantep. Er fragt sich, ob der Terror von Paris nicht gar eine Inszenierung sei, um besser gegen die Muslime in Europa vorgehen zu können. Die Zeitung Hurriyet Daily News zitiert ihn mit den Worten: Der Anschlag sei ja „inszeniert wie in einem Film". Auf den Videoaufnahmen könne man gar kein Blut zu sehen. Das stimme einen schon „nachdenklich".


Nedret Ersanel warnt schließlich in der Zeitung Yeni Safak davor, einige wollten offenbar den Kampf gegen den Terror in einen Kampf gegen den Islam umbiegen. Der türkische Regierungschef Davutoglu fasst das nach der Demonstration in Paris so zusammen: Der Marsch in Paris sei ein starkes Signal gegen den Terror gewesen. Er wünschte sich so eine wuchtige Reaktion gegen auch dann, wenn Muslime Opfer des Terrors sind oder gegen die Islamphobie.


Dass sich die Attentäter in Paris aus den Islam beriefen, damit setzt sich kaum einer der Kommentatoren am Bosporus auseinander. In den offiziellen Verlautbarungen heisst es dazu allenfalls lapidar: Das ist nicht der Islam! Oder: Das ist nicht der „wahre" Islam!


Einer der wenigen, denen das nicht genügt, ist Celal Baslangic. Er schreibt auf dem Online-Nachrichtenportal T24 am vergangenen Freitag, er habe es satt, immer die gleichen Ausreden zu hören. Da würden dutzende Kinder in einer Schule in Afrika im Namen des Islam abgeschlachtet - und die türkischen Politiker sagten nur: Nein, das sei nicht der richtige Islam. Hunderte Mädchen würden als Sklavinnen verkauft - und man höre nur: Das sei nicht der wahre Islam. „Aber das heisst doch nur: Es gibt einen Islam und es gibt einen „wahren" Islam". Damit müsse man sich auseinandersetzen.


Es gibt keinen „wahren Islam", genauso wenig wie es ein „wahres Judentum" oder einen „wahren Sozialismus" gibt. Die „tanzenden Derwische" des Mevlana Ordens, die AKP, die Hizbullah, IS oder Boko Haram, jeder sage von sich, er vertrete den „wahren Islam", meint der freie Kommentator Murat Paker. Alle zusammen seien der „wahre Islam". Wer sage, er vertrete den „wahren Islam" sei selbst nur noch einen kleinen Schritt weg vom Fanatismus, vom Fanatismus gegen die, die nicht den „wahren Islam" vertreten.


Knapp und treffend fasst die Islamkritikerin Ayaan Hirsi Ali das Entscheidende in drei Fragen zusammen: Welches sind die Regeln im Koran zur Frage der Gewalt ? Sind die Regeln des Koran wichtiger, als die Gesetze der Menschen? Wenn eine dieser Regeln besagt, der gläubige Muslim darf z.B. den Propheten Mohammed nicht bildlich darstellen - warum sollte ein solches Verbot auch für Menschen gelten, die nicht Muslime sind?


Doch über diese Fragen wird am Bosporus nicht debattiert. Während der türkische Regierungschef Davutoglu in Paris demonstriert, druckt die türkische Zeitung Radikal Bilder eines islamistischen Ordens aus Istanbul ab. Dort sieht man etwa ein dutzend bärtiger Männer, die sich zu einem gemeinsamen Gebet für die „getöteten Attentäter in Paris" aufstellen.


Noch gestern  ( 11,1,)  hatte ein landesweit bekannter Islamist, Nureddin Yildiz, straflos in der Öffentlichkeit erklärt, ein aufrechter Muslim könne auch mit einem kleinen Kind verheiratet werden - obgleich das ein klarer Verstoß gegen die Gesetze der Republik Türkei ist. Gleichzeitig gibt die staatliche Kontrollbehörde über die Radio- und Fernsehkanäle bekannt, drei TV-Sende würden bestraft, weil sie einen „nackten Frauenkörper" gezeigt hätten. Das schade der „physischen, psychischen und moralischen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen"


Auf Dauer aber wird die Türkei um eine öffentliche Debatte über die Werte des Islam, die Werte einer demokratischen Gesellschaft und wie beide zueinander stehen nicht herumkommen.
(aktualisiert: 12.1.)