Was tun gegen die Gewalt von Männern gegen Frauen in der türkischen Gesellschaft ? Am Bosporus wird über die Wiedereinführung der Todesstrafe diskutiert – und über eine Lizenz zur Eheschließung.


Während in Europa über den Krieg in der Ukraine, gewaltbereite Islamisten und einen möglichen Crash in der Eurozone debattiert wird, gibt es am Bosporus so etwas wie einen Wettbewerb, wer den schrägsten Kommentar zur Vergewaltigung und zum Mord an der Psychologiestudentin Özgecan vergangene Woche in der Stadt Mersin am Mittelmeer abgibt.


Seit Tagen demonstrieren Tausende landauf landab in der Türkei gegen gewalttätige Übergriffe von Männern gegen Frauen. Bislang war das kein großes Thema am Bosporus. Jetzt aber will zu diesem Thema jeder etwas sagen.


Der Schlagersänger Tarkan meint, „Ich schäme mich, ein Mann zu sein", als ob ‚der kleine Unterschied' für die Gewalt verantwortlich ist. Ein paar Männer, die für Frauenrechte eintreten, wollen in Istanbul in einem Minirock demonstrieren. Eine Agentur für Medienbeobachtung hält Facebook für die wachsende Zahl von Beziehungsproblemen für verantwortlich, weil man damit den Partner so leicht betrügen kann. Der Abgeordnete der Regierungspartei AKP, Ismet Ucma, soll für das Parlament die Gründe für die zunehmende Gewalt gegen Frauen herausfinden. Seine Erkenntnis: Die Fernsehsoaps sind schuld, weil die tagaus tagein unmoralische Familienverhältnisse präsentieren. Der für die EU Beitrittsverhandlungen zuständige Minister Volkan Bozkir gesteht, wenn er der Vater von Özgecan wäre, dann würde er sich eine Waffe greifen und seine Tochter rächen wollen und der Wirtschaftsminister Nihat Zeybekci will die Wiedereinführung der Todesstrafe. So wird nun hitzig wie ergebnislos debattiert, besonders engagiert über die Wiedereinführung der Todesstrafe.

Staatspräsident Tayyip Erdogan gibt sich islamisch-konservativ. Er verurteilt Gewalt gegenüber Frauen, denn die Frauen seien laut Koran „den Männern anvertraut“. Der Mann müsse sie deshalb mit Respekt behandeln. Die Mörder von Özgecan müssten die „höchstmögliche Strafe“ erhalten. Er werde sich mit dem Justizminister treffen und den Prozess genau verfolgen.

Damit hat der Staatspräsident das publikumswirksame Thema auch gleich noch zu einem Argument gegen die Gewaltenteilung genutzt. Zur Erinnerung: Vor einigen Jahren hatte Generalstaatsanwaltschaft Ermittlungen gegen den Industriellen Mustafa Koc eingeleitet, weil der sich in der Öffentlichkeit kritisch zu einem laufenden Verfahren geäußert hatte. Der Staatsanwalt sah damals die Verfassung verletzt, denn nach Artikel 138 dürfe niemand einem Richter oder einem Gericht Anweisungen erteilen.


Gelegenheit hätte Tayyip Erdogan schon früher reichlich gehabt, sich kritisch zu Gerichtsverfahren zu äußern. So plädierte im Februar letzten Jahres in der Stadt Denizli der Staatsanwalt für ein mildes Urteil eines Angeklagten, der eine 16 Jährige vergewaltigt hatte, denn die Angeklagte habe ja sogar Bier getrunken. Im August letzten Jahres wurde ein Imam lediglich zu einer Geldstrafe von umgerechnet 350 Euro verurteilt, weil er eine 16 Jährige gegen ihren Willen in der ostanatolischen Stadt Bitlis mit einem 17 jährigen Jungen verheiratet hatte. Zur gleichen Zeit verurteilte ein Gericht in der Stadt Eskisehir einen Mann, der seine Frau vor den gemeinsamen Kindern verprügelte zu der Auflage, seine Frau zum Essen auszuführen und ihr Blumen zu kaufen.


Erst letzten Monat hatte ein Bericht des Sozial- und Familienministeriums zur Gewalt gegen Frauen aufgelistet: Zwischen 2009 und 2014, also innerhalb von 5 Jahren, wurden mindestens 1.134 Frauen in der Türkei von ‚ihren' Männern getötet. Rund 40 % aller Frauen würden unter der Gewalt der Männer leiden, sie würden geschlagen, sexuell missbraucht oder vergewaltigt. Fast 90 % von ihnen aber würden das gegenüber niemandem anzeigen. Der Bericht wurde damals kaum zur Kenntnis genommen.


Wie kommt es zu dieser Gewalt? Kaum einer der Kommentatoren weist darauf hin, dass der neu entbrannte Disput über die Wiedereinführung der Todesstrafe nur vom eigentlichen Problem ablenkt, dem traditionellen Bild von der Frau und der Familien in der Gesellschaft.


Nur wenige wie die Stiftung für Frauen, KAMER, oder der Menschenrechtsverein sagen: Männer sind gegenüber Frauen gewalttätig, weil sie die Frau nicht als gleichberechtigte Partnerin ansehen. Wieso schlagen Männer ihre Frauen? Die Zeitung Taraf sammelte vor einem Jahr die häufigsten Erklärungen: "Sie bat, weiter studieren zu dürfen." "Sie weigerte sich, ihr Gehalt abzugeben." "Sie ging ohne Erlaubnis aus dem Haus." Gerade vor drei Wochen veröffentlichte das Forschungsinstitut IPSOS eine Umfrage. Danach meinten rund 70 %, die Frau benötige die Erlaubnis ihres Mannes, wenn sie arbeiten wolle – und 20% halten es auch für richtig, wenn der Mann seiner Frau auch mal eine Ohrfeige verpasst.


Ich selbst hatte vor einiger Zeit in Bursa der Debatte in einer Frauengruppe zugehört. Eine 50 jährige Mutter berichtete dort, dass sie seit Jahren regelmäßig von ihrem Ehemann verprügelt werde. Als sie gefragt wird, wieso sie ihren Mann nicht anzeige, meinte sie: Wenn ich zur Polizei gehe, nimmt die von mir so eine Anzeige gar nicht auf. Wenn doch, kommt es kaum zu einem Prozess, und wenn, wird mein Mann kaum bestraft. Wenn er aber ins Gefängnis kommen sollte, wovon sollen meine Kinder und ich dann leben?


Nicht einmal ein Drittel der Frauen in der Türkei ist berufstätig, Tendenz fallend. In der Landwirtschaft ist fast die Hälfte der Frauen nicht einmal versichert. Das Land am Bosporus rangierte 2012 nach Angaben der UN in Sachen Wirtschaft weltweit auf Platz 17, in Sachen Gleichberechtigung der Frau aber auf Platz 68. Das Weltwirtschaftsforum sah die Türkei 2013 bei diesem Thema gar auf Platz 120 von 136.


Das spiegelt auch die Wende in der Politik der AKP Regierung wieder. Vorbei sind die Zeiten, als die Regierung noch Kampagnen durchführte: Mädchen an die Schule! Damals, 2005, zahlte Ankara den Eltern sogar Geld, wenn sie ihre Mädchen auf die Schule schickten, statt sie arbeiten zu lassen. Heute verspricht die Regierung Davutoglu den Frauen Geld, die zu Hause bleiben. Im gleichen Sinne erklärt der Gesundheitsminister Mehmet Muzzeinoglu im Januar unwidersprochen, Frauen sollten sich eher ums Kinderkriegen kümmern, statt anderen Karrieren nachzujagen. „ Sie können eine Frau nicht in die gleiche Position bringen wie einen Mann. Das ist gegen die Natur", zitierte im Dezember letzten Jahres die englische Zeitung Independent den türkischen Staatspräsidenten Tayyip Erdogan.

Was also gegen die Gewalt gegen Frauen unternehmen ohne die "unnatürliche Gleichberechtigung" zu fordern? Da bleibt nur der Ruf nach "Kopf ab!" – oder: Eine Gerichtsmedizinerin will, dass bei Prozessen künftig die Beweislast umgekehrt wird. Die Männer sollen beweisen, dass sie nicht die Vergewaltiger sind, sie sollen beweisen, dass sie nicht geschlagen haben. Ein Rechtsanwalt mit Namen Yavuz Balkan reichte vor drei Tagen bei der Antragskommission des Parlaments den Vorschlag ein, der Staat solle künftig ledigen Männern monatlich 75 TL auszahlen, damit sie ins Bordell könnten. Dann gebe es auch weniger sexuelle Übergriffe von ledigen Männern gegenüber Frauen. Ernsthaft dagegen ist die neue Verordnung der türkischen Regierung, wonach Ehepaare vor ihrer Trauung eine staatliche Ehe-Lizenz und eine Ehe-Erlaubnis benötigen. Nach welchen Kriterien die Behörden dem Brautpaar die Ehetauglichkeit bescheinigen wollen, ist allerdings noch nicht bekannt. Der Initiator dieser neuen Verordnung ist übrigens der Abgeordnete Ismet Ucma, der auch mehr Anstand in den Fernsehsoaps fordert.