Es wird wild debattiert - ohne Pause und oft mit viel Gefühl: Die AKP darf auf keinen Fall wieder die Regierung in der Türkei stellen! - sagen einige. Aber was dann?

 

Ja, das kann zu großer Unruhe führen, aber alles ist besser als Tayyip Erdogan. Aber meist hört man das nur von denen, die einen sicheren Job haben und/oder von den wirtschaftlichen Turbulenzen einer möglichen Staatskrise am Bosporus nur wenig betroffen wären. Zwar ist Tayyip Erdogan türkischer Staatspräsident und deshalb nicht einmal mehr Mitglied der AKP ist, aber jeder weiß, dass er die Geschicke der Partei fest in der Hand zu halten sucht.

Mittlerweile sind alle rechnerischen Möglichkeiten für die Bildung einer neuen Regierung durchdebattiert. Schon drei Tage nach der Wahl fragte ein Forschungsinstitut (IPSOS): Wollen Sie Neuwahlen oder eine Koalitonsregierung ?. 51% waren für Neuwahlen, nur 41% wollten eine Koalitonsregierung. Warum? In der Türkei ist ,Koalition' gleichbedeutend für ,politische Instabilität'. In der bald hundertjährigen Geschichte der Republik Türkei gab es bislang 20 Koalitionsregierungen. Schon die erste, 1961, überdauerte gerade 7 Monate. Keine einzige hat eine ganze Legislaturperiode durchgehalten. In den 90iger Jahren gab es in nur 5 Jahren 7 verschiedene Koalitionen. Das einzig Konstante war die Regierungskrise und Stillstand im Land. Dahin zurück will keiner.

Es hilft aber nichts: Der AKP fehlen 18 Sitze im Parlament, um allein die Regierung bilden zu können. Etliche Journalisten in Ankara berichten von einer starken Fraktion innerhalb der AKP, die angeblich für Neuwahlen sind. Sie hätten bereits eine Untersuchung in den Wahlkreisen in Auftrag gegeben, in denen sie die meisten Stimmen verloren haben. Damit solle ausgelotet werden, ob es möglich sei, bei einer erneuten Wahl im Herbst zumindest die fehlenden 18 Sitze im Parlament zurück zu erobern.

Doch kann die Partei sicher sein, dass auch nur genügend Abgeordnete bereit sind, schon wenige Tage nach ihrer Vereidigung ihren Posten wieder zur Wahl zu stellen? Und was, wenn nach der zweiten Wahl die AKP gar noch weniger Stimmen erhält, weil sie sogar eine Staatskrise riskiert, nur um ein passendes Wahlergebnis zu erhalten? Auch am Bosporus kennt man den Satz von Bertold Brecht: ,Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf, und wählte ein anderes ?'

Der noch amtierende Ministerpräsident Ahmet Davutoglu klingt zunächst wie ein Politiker, der weiß, was auf dem Spiel steht. Die AKP werde nicht zulassen, dass das Land ins Chaos abrutscht, erklärte er in einem ersten Interview nach den Wahlen im Staatssender TRT - und: Das Volk habe sich gegen ein Präsidialsystem entschieden. Mit diesem schlichten Satz hat er das erste und entscheidende Wahlziel der AKP aufgegeben und ein wichtiges Hindernis für eine Koalitionsregierung aus dem Weg geräumt.

Was gibt es für Möglichkeiten ? Eine Koalition zwischen AKP und MHP ist inzwischen eher unwahrscheinlich. Da bleibt - außer Neuwahlen - nur die Zusammenarbeit zwischen AKP und CHP (Republikanische Volkspartei), der größten Oppositionspartei mit 132 Abgeordneten.

Politisch liegen die AKP und CHP zumindest in der Frage der EU-Beitrittsverhandlungen und NATO Mitgliedschaft nicht weit auseinander. Beide haben auch in Wirtschaftsfragen keine unüberwindbaren Differenzen und beide sind für die Fortsetzung des Friedensprozesses mit der PKK. Beide Parteien hätten zusammen sogar eine ausreichende Mehrheit, um endlich das Projekt ,Reform der Verfassung des Militärs nach dem Putsch von 1981' zu initiieren, ein Projekt, für das beide ebenfalls schon seit Jahren werben.


Für die CHP hätte solch eine Koaliton ausserdem den Vorteil: Die kurdennahe HDP, an die sie etliche Stimmen verloren hat, könnte keinen großen Einfluss auf die Regierungsgeschäfte nehmen, weil sie als Mehrheitsbeschaffer nicht gebraucht würde.

Noch vor den Wahlen haben alle sog Beobachter eine Koalition zwischen AKP und CHP rundweg ausgeschlossen. AKP und CHP sind seit 13 Jahren enge politische Gegner, ja Feinde. Folglich war das erste Wahlziel der CHP: Die AKP muss weg von der Regierungsbank. Der CHP Vorsitzende, Kemal Kilicdaroglu, wird Regierungschef. Jetzt aber, nach der Wahl, wäre das nur noch möglich mit einer CHP-Minderheitsregierung - und der Unterstützung der Stimmen von MHP und der kurdennahen HDP. Das allerdings ist ein Modell, das nur mit Kamikaze-Regierung treffend umschrieben wäre.

Inzwischen hat Kemal Kilicdaroglu zwei Bedingungen für Koalitionsverhandlungen genannt: Präsident Tayyip Erdogan müsse jede Einmischung in die Regierungsgeschäfte aufgeben - und die der Korruption verdächtigten ehemaligen AKP Minister müssten vor Gericht gestellt werden - obwohl die AKP Mehrheit im Parlament im Januar dieses Jahres entschieden hatte, den ehemaligen Ministern einen Prozess zu ersparen.

Sollten Verhandlungen mit der AKP zustande kommen, kann das kompliziert werden. Zunächst erschwert jeder, der in der Presse rote Linien zieht, Kompromisse bei Koalitionsverhandlungen. Ausserdem sind die Anhänger beider Parteien in tiefer politischer Gegnerschaft miteinander verbunden. Es ist völlig offen, ob Kemal Kilicdaroglu seine Partei für eine solche Koalition überhaupt gewinnen könnte. Für viele CHP Anhänger ist die AKP der Inbegriff allen Übels. Beide Parteien hatten während des Wahlkampfes auch mit gehässiger Polemik gegeneinander gewettert - bis hin zu Beleidigungsklagen. Und dafür haben wir euch nun gewählt, dass ihr mit denen zusammenarbeitet ?!! - könnte es der CHP entgegenschallen.

Zusammenarbeit mit der AKP: Ja oder Nein? Ein Ja könnte zu hässlichem Streit in der Partei führen, die noch nicht einmal das schlechte Wahlergebnis aufgearbeitet hat. Das ist wohl auch der Grund, wieso Kilicdaroglu dazwischen wieder für eine „Koalition ohne AKP" plädiert. Manche behaupten, er müsse seiner Mannschaft erst vorführen, dass eine Koalition ohne AKP nicht zustande kommen kann, bevor er Gespräche mit der AKP führt. Sicher ist aber: Eine Regierung gegen die AKP führt zu politischer und auch zu wirtschaftlicher Instabilität.

Solche Verhandlungen sind für viele in der AKP aber auch schwer vorstellbar. Wie soll die AKP Mitgliedschaft ohne zu Mucksen der CHP ihre ehemaligen Minister für ein Gerichtsverfahren ausliefern, oder es zulassen, dass die CHP den wahren Führer der AKP, Tayyip Erdogan, einfach links liegenlässt.

In der Türkei können Fragen von staatstragender Bedeutung schließlich schon an lächerlichen Formfragen scheitern. Soll man vor einer Regierungsbildung auch mit dem Staatspräsidenten Tayyip Erdogan sprechen? Was hat der denn mit der Regierungsbildung zu tun, fragt Kilicdaroglu. Wo soll man sich mit ihm treffen, wenn man eine Einladung in seinen Protzpalast auf jeden Fall ablehnt ?

Wird es eine Regierungsbildung gegen Tayyip Erdogan geben können? Der angesehene Wahlforscher Bekir Agirdir meint, Erdogan sei inzwischen so etwas wie eine fünfte Partei im politischen Gefüge des Landes. Selbst wenn sich alle einig würden, bliebe immer noch die Frage: Und wie steht der Staatspräsident dazu? Hat er den Plan für eine Präsidialverfassung aufgegeben? Plant er gar mit einer der kleineren Parteien, der MHP, eine ,Koaliton' für Neuwahlen?

Um all diese Fragen zu beantworten, haben die Parteien gerade mal noch einen guten Monat Zeit. Wenn innerhalb 45 Tagen keine Regierung gebildet ist, finden automatisch Neuwahlen statt. Für Politiker und Parteien, die nur sehr wenig Erfahrung haben, wenn es darauf ankommt, auf den politischen Gegner zuzugehen und einen Kompromiß zu schließen, ist das verdammt wenig Zeit. ( aktualisiert: 16.06. )