Man kann es nur schwer verstehen: Wieso gerade jetzt diese Debatte am Bosporus über einen Einmarsch türkischer Truppen in Syrien?

Wieso will der türkische Staatspräsident Tayyip Erdogan, dass sich der Generalstab über seinen Kartentisch beugt, um festzulegen, ob die Armee 20 oder 30 km Kilometer syrischen Staatsgebietes erobern und als „Pufferzone" oder „Sicherheitszone" besetzen soll ?

Immer wieder fielen Bomben von syrischem Territorium auf das Staatsgebiet der Türkei – die Reaktion aus Ankara daraufhin war bislang sehr zurückhaltend. Wie viele türkische Staatsbürger bei Anschlägen von IS Attentätern ums Leben kamen, wurde bislang nicht einmal gezählt. Eine Großrazzia der türkischen Polizei gegen IS Kämpfer in der Türkei gab es allerdings bislang nicht. Im Gegenteil: Ein Antrag der Oppositionsparteien im Parlament im Februar dieses Jahres, die Regierung möge die Aktivitäten des IS auf türkischem Territorium untersuchen, wurde mit der Mehrheit der AKP Abgeordneten abgelehnt. Der IS gilt nicht einmal als Terrororganisation am Bosporus.

Zwar hat das türkische Parlament die Regierung im Oktober letzten Jahres ermächtigt, die Armee auch auf irakischem oder syrischem Territorium zu „grenzüberschreitenden Militäroperationen einzusetzen“. Es ist aber umstritten, ob dieses Mandat auch die Stationierung türkischer Truppen dort einschließt. Wer soll das entscheiden? In Ankara tagt zur Zeit nur eine „Regierung auf Abruf“. Eine zu bildende Regierung muss erst vom Parlament gebilligt werden – und auch der Generalstabschef befehligt nur noch „auf Abruf“. Er geht in wenigen Wochen in Ruhestand. 

Zwar ist der türkische Staatspräsident laut Verfassung Oberbefehlshaber der Armee, über Krieg und Frieden aber entscheidet die Regierung. Die Armee ist der Regierung verantwortlich. Was ist an der jetzigen Lage so brisant, dass trotz vieler zu klärenden Fragen die Armee sofort in Marsch gesetzt werden soll?

Es stimmt, seit Jahren drängt die Türkei auf die Einrichtung einer Pufferzone im türkisch-syrischen Grenzgebiet. Damit könnte der IS auf Abstand gehalten werden, syrische Flüchtlinge würden auf syrischem Territorium untergebracht und die nordsyrischen Kurden wären unter der Kontrolle der türkischen Armee. Die Kurden im Norden Syriens, die PYD, der Ableger der PKK, beherrschen aufgrund ihrer militärischen Erfolge gegen den IS ein immer größeres Gebiet an der Grenze zur Türkei. Das beunruhigt Ankara zusehens. Aber von einer direkten und akuten Bedrohung der Türkei durch die Kurden kann keine Rede sein. Dafür sorgen schon die USA, die seit einem guten halben Jahr die PYD mit der US Luftwaffe und auch mit Waffenlieferungen unterstützen.

Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die USA der türkischen Armee grünes Licht für eine Besetzung syrischen Territoriums gibt. Nach einer Meldung der türkischen Zeitung Zaman erklärte bereits gestern(29.06.) das US Außenministerium, man habe keine „konkreten Hinweise“, dass die Türkei oder Jordanien eine Pufferzone im syrischen Grenzgebiet errichten wollten. Die Türkei ist bekanntlich NATO Mitglied, Russland und Iran haben bereits unmissverständlich warnend den Finger gehoben.

Der stellvertretende Generalsekretär der CHP, Murat Özcelik, glaubt deshalb, dass Tayyip Erdogan mit seinem Vorstoß auch innenpolitische Absichten verfolgt. Er verstärkt damit nicht nur den Druck auf die „Koalitionspartner“ im Kampf gegen den IS, dem türkischen Wunsch nach solch einer „Sicherheitszone“ nachzugeben. Er stört damit auch ganz empfindlich die Koalitionsverhandlungen zwischen der AKP und der CHP zur Bildung einer neuen Regierung. Es ist kein Geheimnis am Bosporus, dass Erdogan befürchtet, bei einer AKP-CHP Koalition könnten seine Machtbefugnisse auf Dauer beschnitten werden. (siehe auch Artikel (Innenpolitik): Kompromiß oder Krise)

Die CHP lehnt nun seit langem jedes direkte Eingreifen des türkischen Militärs im syrischen Bürgerkrieg strikt ab. Das hat der CHP Vorsitzende Kemal Kilicdaroglu in diesen Tagen noch einmal bekräftigt. In einer möglichen AKP-CHP Regierung hofft die CHP wohl auch auf den Posten des Außenministers.

Der Verhandlungspartner von Kemal Kilicdaroglu ist der jetzige AKP Regierungschef Ahmet Davutoglu (AKP). Er betont zwar, die Koalitionsverhandlungen würden nicht im Präsidentenpalast geführt. Er kann aber gegen die Kriegspläne des türkischen Staatspräsidenten Erdogan nicht öffentlich Stellung nehmen. Er riskierte damit einen wohl einen wüsten Streit innerhalb der AKP zwischen den Kritikern und Anhängern Erdogans. Der Ausgang eines solchen Streites wäre ungewiss, denn noch sind die Risse in der AKP angesichts der Wahlniederlage nur zugekittet. Die CHP ihrerseits kann solche Kriegspläne aber nicht schweigend übergehen. Kommt es zu einem Einmarsch türkischer Truppen in Syrien, ist eine AKP-CHP Koalition sowieso unwahrscheinlich. Aber selbst wenn es nicht dazu kommt, das  Thema mit den unvereinbaren Standpunkten bleibt auf dem Koalitions-Verhandlungstisch.

Ähnliche Gründe hatte wohl auch der brutale Polizeieinsatz gegen die Christopher Street - Schwulendemonstration in Istanbul am vergangenen Wochenende(28.06.). Jedem war klar, dass die Begründung des Gouverneurs von Istanbul für das Verbot der Demonstration absurd ist. Er gilt als Vertrauter Erdogans und hatte in letzter Sekunde erklärt, solch eine Veranstaltung sei mit Rücksicht auf den heiligen Monat Ramadan unmöglich. Tatsächlich konnte die gleiche Demonstration im vergangenen Jahr – ebenfalls im heiligen Monat Ramadan - mit vielen tausend Teilnehmern ohne Probleme stattfinden. Auch dieses Jahr marschierten etliche CHP Abgeordnete in Istanbul mit. Einer von ihnen, Mahmut Tanal, versuchte gar auf einen Wasserwerfer zu klettern, um den Einsatz der Polizei zu stoppen. Eine CHP Abgeordnete wurde während des Polizeieinsatzes leicht verletzt.

Auch das kann die CHP nicht einfach schweigend übergehen. Ahmet Davutoglu aber kann sich auch nicht offen zum Verteidiger einer Schwulendemonstration am Ramadan aufschwingen.Das Ergebnis ist beides Mal dasselbe: Die Bedingungen für Verhandlungen über eine AKP-CHP Koalition werden schwieriger.

Es ist eher unwahrscheinlich dass bis Freitag dieser Woche der Einmarschbefehl nach Syrien an die türkische Armee ergeht, wie einige ausländische Korrespondenten erwarten. Der ganze Vorgang zeigt aber: Es geht wahrlich um viel bei dem Versuch, am Bosporus eine neue Regierung zu bilden. Es steht dabei die gesamte Bündnispolitik der Türkei zur Debatte – bis hin zur Frage von Krieg und Frieden. Die Folgen eines militärischen Abenteuers der Türkei in Syrien jedenfalls wären unübersehbar.