Wem galt der Anschlag von Ankara? Was wird dieses Attentat dem Land noch bringen? Die Reaktionen der Politiker am Bosporus sind verhängnisvoll.

 

 Es ist still in Istanbul, einen Tag nach dem furchtbaren Terrorakt in Ankara. Nur wenige sind in den sonst so quirlig lebendigen Straßen zu sehen, kaum jemand spricht, nirgends hört man Musik. Das sonst übliche Großstadtbrummen ist merkwürdig leise. Es hört sich so an, als hätten alle begriffen, dass der Anschlag gestern in Ankara mehr war, als eines von vielen Attentaten in diesem Jahr – nur eben mit mehr Opfern als sonst.


Der Platz vor dem Hauptbahnhof in Ankara, auf dem die Bomben hochgingen, sah gestern aus wie nach einem Gemetzel mitten im Krieg. Wem haben die Terroristen den Krieg erklärt ? Den Linken, der Opposition, weil es vor allem Menschen traf, die gegen die Politik der Regierung auf die Straße gingen ? Der Kurdenbewegung, weil viele Kurden gegen den Krieg des türkischen Staates gegen die PKK demonstrieren wollten ? Der Regierung, weil die Sprengsätze mitten in der Hauptstadt hochgingen ?
Nicht einmal in dieser Frage sind sich die Parteien am Bosporus einig.


Der türkische Staatspräsident Tayyip Erdogan deutet auf die PKK und setzt das Attentat in Ankara mit den Angriffen der PKK auf die Sicherheitskräfte des Staates gleich. Er heizt auch am Tag des Attentats den Konflikt mit der PKK weiter an, obgleich die PKK am selben Tag erklärt, sie werde einseitig alle Kampfhandlungen aussetzen.


Der türkische Regierungschef Ahmet Davutoglu spricht in seiner ersten Pressekonferenz nach dem Attentat 4 Minuten lang von einem Angriff auf das ganze Land, auf die Demokratie des Landes. Jetzt sei nicht die Zeit für parteipolitisches Gezänk. Und dann polemisiert er 10 Minuten lang gegen die kurdennahe Opposition im Parlament, die HPD und deren Vorsitzenden Selahattin Demirtas. Er lädt die Oppositionsparteien im Parlament, die Republikanische Volkspartei CHP und die Nationalistische Volkspartei MHP zu Gesprächen ein. Alle demokratischen Kräfte sollten gemeinsam beraten, wie man gegen den Terror vorgehen könne. Die HDP aber, schließt er bei dieser Einladung aus.

Selahattin Demirtas beschuldigt seinerseits die Regierung. Sie habe kein Interesse an der Aufklärung solcher Anschläge. Nicht einmal das Selbstmordattentat auf die HDP Kundgebung im südostanatolischen Suruc am 20. Juli dieses Jahres, bei dem 33 Menschen ums Leben kamen, sei bisher aufgeklärt. Aber jeder, der auf Twitter die Regierung kritisiere, werde sofort festgenommen. „Das ist ein Anschlag des Staates auf unser Volk."


Schon nach dem Attentat in Suruc hatte die HDP eine Aufforderung des Regierungschefs Ahmet Davutoglu strikt abgelehnt, eine Erklärung aller Parteien gegen den Terror mit zu unterzeichnen. Und auch heute, angesichts eines bislang einmaligen Angriffes auf die türkische Gesellschaft, kann er auf Parteipropaganda nicht verzichten.


Der Parteivorsitzende der Nationalistischen Volkspartei MHP, Devlet Bahceli, hat inzwischen die Einladung des Regierungschefs zu einem ‚runden Tisch gegen den Terror' abgelehnt. Die falsche Aussenpolitik und die unheilvolle Annäherung der Regierung an die Terroristen (der PKK) seien schuld, wenn der Terror um sich greife.


Der Parteivorsitzende der republikanischen Volkspartei CHP, größten Oppositionspartei im Parlament, Kemal Kilicdaroglu, erklärt, seine Partei sei bereit, alles und jeden gegen den Terror zu unterstützten. Jetzt sei nicht die Zeit für parteipolitisches Gezänk, aber er fordere den Rücktritt aller Politiker, die dafür verantwortlich sind, dass solch ein Anschlag geschehen konnte.


Die Weimarer Republik, die deutsche Republik nach dem Ersten Weltkrieg, war eine „Demokratie ohne Demokraten" und sei daran schließlich zerbrochen, sagten einst einige Historiker. Viele türkische Oppositionelle sagen, man könne am Bosporus nicht einmal von Demokratie sprechen.


Offensichtlich ist, dass keiner der Politiker am Bosporus bislang erkannt hat, dass die Attentäter in Ankara der gesamten türkischen Gesellschaft und ihrem –ganz unvollkommenen – demokratischen Staatswesen den Krieg erklärt haben. Raufen sich die politischen Parteien nicht einmal angesichts eines solchen Attentats zusammen und beziehen gemeinsam Stellung gegen Hass und Gewalt, könnte die türkische Gesellschaft jeden Zusammenhalt verlieren.


Dann ist es egal, ob die Wahlen am 1. November noch stattfinden werden oder wie sie ausgehen. Dann versinkt das Land in finsterer Zerrissenheit. Dann triumphiert der Terror, denn das ist es, was die Attentäter ja erreichen wollen.


Zur Erinnerung: Der letzte ähnlich grauenhafte Anschlag, am 20. Juli in Suruc – er hat zumindest als Ausrede dafür hergehalten, um den Krieg zwischen den türkischen Sicherheitskräften und der PKK neu anzuzündeln. Schon dieser Anschlag hat das Land auf eine unheilvolle Bahn geführt. Die fast unheimliche Ruhe in Istanbul an diesem Sonntag hörte sich auch an wie die Angst, was dieser Anschlag in Ankara dem Land noch bringen wird.