Am Wochenende wird am Bosporus wieder gewählt – es ist alles andere als eine „normale" Wahl. Worum geht es ?

Es gab auch ab und an eine der üblichen Wahlkundgebungen. Bekanntlich wird am kommenden Wochenende ja noch einmal das Parlament gewählt, weil die AKP bei den Wahlen im Juni die absolute Mehrheit verpasst hatte. Rund um die Uhr im Großeinsatz waren aber die Sicherheitskräfte – von den Spezialeinheiten der Armee bis zu den Streifenpolizisten


Die Luftwaffe flog ständig Einsätze im Nordirak, dann auch in Syrien, Hunderte kamen uns Leben beim Kampf zwischen der türkischen Armee und der PKK. Es gab Ausgangssperren, in weiten Teilen des türkischen Südostens war quasi das Kriegsrecht verhängt. Bombenattentate, politisch motivierte Morde, die Angst vor Terroranschlägen ist in den großen Städten überall spürbar, es gibt landesweite Razzien auf mögliche Selbstmordattentäter des IS. Polizisten besetzten eine Bank und stürmten die Zentrale eine Mediengruppe, weil die angeblich einem weiteren Staatsfeind, dem Prediger Fetullah Gülen, zuarbeiten. Auf den Schreibtischen der Staatsanwälte stapeln sich die Anklagen wegen Beleidigung des Präsidenten Erdogan oder unbotmäßiger Propaganda – und der (Übergangs-) Innenminister erklärt, 250.000 Polizisten und 130.000 Gendarmen würden den Wahlgang am Wochenende schützen. Auch das klingt wie eine Drohung, allein, weil er damit auch sagt, die seien wohl für den ordnungsgemäßen Ablauf der Wahl nötig.


2007 wurde von mir ein Buch veröffentlicht „Türkisches Roulette - Die neuen Kräfte am Bosporus" – zum Thema: Gelingt der Umbruch in der Türkei ? Vor wenigen Tagen veröffentlichten zwei Kolleginnen ein Buch über die Türkei „Bosporus reloaded" – Die Türkei im Umbruch. Manchmal überfällt den Beobachter der Türkei der Gedanke, ob sich das Land nicht ständig im Kreis dreht, ob nicht immer wieder über dasselbe Thema gesprochen und geschrieben werden muss.


Meinungsfreiheit ? Wer sich heute – zurecht – über die maßlose Prozesslawine erregt, unter der Tayyip Erdogan jeden auch nur kritischen Halbsatz wegen „Beleidigung des Präsidenten" begräbt, der möge sich an die unzähligen Prozesse wegen „Beleidigung Atatürks" vor 15 oder 20 Jahren erinnern. Noch 2005 wurde ein Mann zu 20 (!) Jahren Haft verurteilt, weil er in der Nähe von Ankara über Büsten des türkischen Republikgründers Atatürk, die auf Schulhöfen aufgestellt war, Ölfarbe gegossen hatte. Der Mann habe im Gerichtssaal sogar „Reue bekundet", aber das Gericht habe es ihm nicht abgenommen, es aufrichtig zu meinen, stand in den Zeitungen. Wenn einem kritischen Kopf partout nicht eine Beleidigung des Staatsgründers Atatürk nachgewiesen werden konnte, dann aber sicher Propaganda für den Terrorismus oder gegen die Einheit des türkischen Vaterlandes.


Unabhängigkeit der Justiz? Noch 2005 erhielt ein Staatsanwalt (Sakariya) sogar Berufsverbot, weil er den damaligen Generalstabschef Büyükanit in einer Anklageschrift in die Nähe einer Straftat rückte. Auch die Anklageschrift wanderte danach natürlich in den Papierkorb. Als die AKP die Justiz noch nicht an der Kandare hatte, sondern die meisten Gerichte noch in der Hand der (damals abgewählten) Kemalisten war, wurde fast jeder Richterspruch ein Versuch, deren Regierungsarbeit zu unterlaufen. Selbst gegen Preiserhöhungen bei Busfahrkarten schritten die Richter ein – und schließlich sollte die Regierungspartei ganz verboten werden.


Pressefreiheit? Was man in Berlin, London oder Washington unter Pressefreiheit versteht, das gab es in der Türkei noch nie, nicht seit am Bosporus 1831 die erste Zeitung verkauft wurde. (siehe auch Artikel (Innenpolitik): Eine andere Welt). Der Überfall der Polizei auf ein Medienkonsortium (Koza-Ipek), das sich meist kritisch mit der Regierung auseinandersetzte, ist auch kein Angriff auf die „Unabhängigkeit der Presse" in der Türkei. Es gibt Zeitungen und Fernsehkanäle mit ganz unterschiedlichen Meinungen, aber alle sind sie „abhängig", abhängig von einer Partei, einer Glaubensrichtung, einem Orden. Der bekannte Satz des Journalisten Hans Joachim Friedrichs, ein guter Journalist macht sich mit keiner Sache gemein, auch nicht mit einer guten – der ist am Bosporus gänzlich unbekannt. Der Journalist am Bosporus redet, schreibt und filmt immer für eine gute Sache, die Sache der Kurden, die Sache der Regierung, die Sache der Opposition, die Sache des Türkentums, des Glaubens, manchmal gibt der Journalist auch nur die Meinung seines Chefs wieder und kämpft schlicht für den Erhalt seinen Arbeitsplatzes usw. usw. – und natürlich nennen alle das immer den Kampf um Demokratie.


Und doch ist es nicht immer wieder das Gleiche.


Der ehemalige türkische Staatspräsident Turgut Özal schuf nach dem Militärputsch 1980 die Voraussetzungen für einen großen Umbruch, die Voraussetzungen für die Überwindung der Staatswirtschaft und die Einführung der freien Marktwirtschaft. Das Land öffnete sich. Die finanzstarken Geschäftsleute in den Städten erhielten mehr Einfluss und Macht, die Wirtschaft besserte sich. Turgut Özal war darüber hinaus auch Mitglied eines religiösen Ordens. Unter seiner Regentschaft konnte das Thema Islam nach und nach aus dem Schummerlicht eines eher anstößigen Tabuthemas treten. Die letzte Kontrolle beim allem aber behielten zunächst die Generäle.


Zwanzig Jahre später organisierte Tayyip Erdogan den nächsten Umbruch am Bosporus. Er nahm den Generälen nach und nach die Kontrolle über Wirtschaft und Politik aus der Hand. Er verhalf den religiös konservativen Bauern aus Anatolien, die in die Städte gezogen waren, und den Mittelständlern aus Anatolien zu Freiheiten, die sie bis dahin nicht hatten. Bekanntlich durften damals Mädchen, die ein Kopftuch trugen, nicht einmal auf eine höhere Schule. Angestellte mit einem Vollbart sollten sich rasieren und „gläubige Offiziere" waren verdächtig. Der „anatolische Tiger" verhalf dem Land zu einem wirtschaftlichen Aufschwung, der Tayyip Erdogans Partei, der AKP, von einem Wahlsieg zum anderen trug.


Erdogan und Özal, beide kämpften und kämpfen verbittert um den Erhalt der Macht, wie damals auch das Militär. Als Özal's Partei (ANAP) bei Wahlen immer weniger Stimmen erhielt, änderte er sogar das Wahlgesetz. Danach erhielt die Partei, die weniger Stimmen gewann, plötzlich mehr Sitze im Parlament. Weder Özal und Erdogan ging es um Demokratie. Trotzdem verhalfen sie einem Teil der türkischen Gesellschaft zu größerer Teilhabe an der Entwicklung des Landes.


Jetzt, weitere rund 15 Jahre später, steht ein weiterer Umbruch am Bosporus an. Auch wenn tagesaktuell das Kurdenproblem im Vordergrund steht: Es geht nicht nur um die Teilhabe der Kurden an der Entwicklung des Landes. Das ganze System, wonach immer ein Teil der türkischen Gesellschaft auf Kosten und zum Nachteil der anderen „regiert", wird in Frage gestellt. Seit Jahren nimmt die Zahl der zivilgesellschaftlichen Gruppen und Verbände , der NGO's, am Bosporus zu. Die Gezi-Proteste waren das unübersehbares Zeichen: Es reicht! Vor allem die Generation Twitter-Facebook engagiert sich mehr und mehr abseits der traditionellen Machtstrukturen.


Schon 2013 ermittelte das Sozialforschungs-Institut Konda unter den 18-28 Jährigen rund ein Drittel, das mit der politischen Entwicklung im Land nicht zufrieden ist. Im gleichen Jahr ergab eine Umfrage, dass 76% der Jungwähler zwischen 18 und 24 Jahren weder Mitglied einer der maßgeblichen Parteien im Land sind, noch sind bei einer dieser Parteien engagieren wollen. Ein Drittel der Jugendlichen (zw 15 und 24) gehen weder zur Schule noch zu Arbeit. Die AKP erhielt bei den Wahlen im Juni dieses Jahres von den jungen Wählern zwischen 18 und 28 Jahren 5 % weniger Stimmen als die anderen Parteien.


Das Internet erleichtert die Verständigung unter den Unzufriedenen, es ermöglicht auch zum ersten Mal Ansätze von unabhängigem Journalismus, von Berichterstattern und Kommentatoren, die nicht von einer Partei oder einem politisch klar ausgerichteten Unternehmen abhängen. Es ist also kein Zufall, dass sich die Regierung vor allem auch auf das Internet und die von ihr nicht abhängigen Medien stürzt.


Inzwischen ist die Atmosphäre im Land vergiftet, wie seit Jahrzehnten nicht mehr. AKP Anhänger schießen in Istanbul auf die Parteizentrale der größten Oppositionspartei, der CHP. Nationalisten verprügeln kurdische Arbeiter. Der Führer der kurdennahen Partei HDP warnt, die Regierung werde demnächst auch den Kurden in Syrien den Krieg erklären. Ein anderer HDP Funktionär weckt gar Zweifel, ob der PKK Führer Öcalan wohl noch am Leben sei? Der Regierungschef Ahmet Davutoglu droht, wenn seine Partei nicht die absolute Mehrheit erhalte, würden wohl wieder Killerkommandos im Land ihr Unwesen treiben, wie einst in den 90iger Jahren. Manche munkeln, die AKP könne sich spalten, andere glauben, die AKP werde sich nach den Wahlen unter den anderen gewählten Abgeordneten einfach die nötige Mehrheit kaufen. Wieder andere reden sogar von Bürgerkrieg.


Vertrauen in Demokratie und das Ergebnis von Wahlen hört sich anders an. Wahrscheinlich wird dieses Mal das Wahlergebnis selbst nicht einmal das Entscheidende sein. Es wird noch mehr darauf ankommen, wie die Parteien mit diesem Ergebnis umgehen. Davon wird wohl abhängen, ob der Umbruch am Bosporus zunächst zu einer tiefen Krise führt. Bislang jedenfalls schüren viele vor allem Misstrauen, eigentlich könne unter diesen Bedingungen ein „ehrliches Wahlergebnis" gar nicht zustande kommen.