Keine der Wahlforschungsinstitute hatte einen solchen klaren Sieg der AKP vorhergesagt. Kennt Tayyip Erdogan sein Volk besser als alle Wahlauguren?

Wie können die Türken eine Partei wie die AKP des Diktator-ähnlichen Tayyip Erdogan wieder mit absoluter Mehrheit im Parlament zur allein regierenden Kraft wählen? Das mag dem einen oder anderen vielleicht durch den Kopf gehen.


Wahrscheinlich hatte nicht einmal Tayyip Erdogan oder sein regierender Ministerpräsident Ahmet Davutoglu mit so einem überzeugenden Wahlergebnis gerechnet. Nicht umsonst hielt Davutoglu seine erste Rede nach Bekanntgabe der Stimmauszählung in der Stadt zentralanatolischen Stadt Konya. Dort stand der Wahlsieg der AKP schon lange fest.


Doch was wäre gewesen, hätte die AKP nicht die absolute Mehrheit erreicht hätte? Für die Demokratie am Bosporus wäre das ein tiefer Einschnitt gewesen. (siehe auch Artikel (Innenpolitik): Was für eine Wahl!?) Ein Einschnitt, ja – aber auch ein Fortschritt?


Noch mal eine Wahlwiederholung hätte auch die AKP und Staatspräsident Erdogan nur schwer durchsetzen können. Es hätte eine Koalitionsregierung gegeben – am ehesten wohl eine Koalition mit der rechtsnationalen MHP. Die musste bei den Wahlen kräftig Federn lassen und stellt nun sogar weniger Abgeordnete als die kurdennahe HDP. Die Folgen einer AKP-MHP Koalition waren absehbar: Eine weitere Verschärfung des Konfliktes mit der PKK und eine noch radikalere Einschränkung der Freiheiten. Dafür hatte die MHP immer plädiert. Die Konsequenz: Noch mehr Tote im Südosten der Türkei, noch mehr Demonstrationen, Proteste, die Gewalt auf den Straßen hätte wohl weiter zugenommen. Das Land am Bosporus wäre in noch mehr Instabilität geschliddert als schon jetzt, der Niedergang der Wirtschaft hätte sich außerdem weiter beschleunigt. Dabei ist die wirtschaftliche Lage am Bosporus längst Besorgnis erregend. Schließlich hätte dieser Koalition kaum einer mehr als ein Jahr gegeben. (siehe auch Artikel (Innenpolitik): Kompromiß oder Krise)


Selbst wenn eine Koalition mit der größten Oppositionspartei im Parlament, der Republikanischen Volkspartei CHP, zustande gekommen wäre: Auch sie hätte wohl kaum länger Bestand gehabt. Trotz wachsendem Unmut über das absolutistische Gehabe der AKP, die Wähler haben – wohl zurecht – der CHP einen ernsthaften demokratischen Wandel der Politik des Landes nicht zugetraut. Nicht umsonst hat nicht einmal die CHP in den Wahlen ernsthaft Stimmen gewonnen.


Spürbar abgestraft wurde auch die kurdennahe HDP- Sie hat selbst in allen Wahlkreisen des Südostens, der Kurdenregion des Landes, an Stimmen verloren. Mit versteinertem Gesicht saß der bislang als „kurdischer Obama" bejubelte HDP Vorsitzende Selahattin Demirtas auf der Pressekonferenz des Wahlabends. Seine Ko-Vorsitzende und er beklagten vor allem die ungleichen Bedingungen im Wahlkampf . Damit haben sie zweifellos Recht, den Verlust von 2 Millionen Stimmen erklärt das aber nicht. Dass die PKK mit ihrem ‚totalen Krieg' gegen die türkischen Sicherheitskräfte sehenden Auges in die Falle der AKP Regierung getappt ist, das blieb unausgesprochen. Dazu fehlt der HDP noch die politische Eigenständigkeit.


So bleibt es dabei: Es fehlt am Bosporus eine ernsthafte, vertrauenswürdige Opposition. Die türkischen Wähler haben die Lage wohl so eingeschätzt: Für eine große Wende reichen die politischen Kräfte am Bosporus nicht. Die kleine Wende, die Verbannung der AKP in das Straflager einer Koalition – so zumindest sieht die AKP das – bedeutete: Weitere eineinhalb Jahre Unsicherheit, politische Krise und ein beschleunigter wirtschaftlicher Abschwung.


Dagegen ist absehbar, was weitere 4 Jahre Alleinherrschaft der AKP bringen werden: Mehr innenpolitische Stabilität, ein planbarer Zeitraum für wirtschaftliche Unternehmen, wenn es gut geht ein weiterer Ausbau der Infrastruktur des Landes – wenn auch zum Preis noch engerer Freiräume für kritische Meinungen und die Presse und eine weitere Ausrichtung der Justiz im Sinne der AKP Regierung.

 

Die USA jedenfalls ( Kampf gegen den IS ) und Europa ( Flüchtlingskrise ) sind ob des Wahlausgangs am Bosporus wohl eher beruhigt. Auch für sie war ein Szenario ‚politische Instabilität' wohl eine beängstigende Aussicht.


Ob die Opposition die kommenden vier Jahre zur Erneuerung zu nutzen weiß, wird man sehen. Man sollte nicht vergessen: Auch der Umbruch von der Ära Özal zur Ära der AKP mit Tayyip Erdogan hat rund 10 Jahre gedauert. Immerhin hat der türkische Wähler der AKP einen Schuss Essig in den süssen Wein des Wahlsieges gegossen. Eine Mehrheit zur Änderung der Verfassung hat er der AKP nicht beschert – und damit Tayyip Erdogan zumindest den legalen Weg zum Alleinherrscher am Bosporus versperrt.