Die AKP Regierung in Ankara ist bereit, in Syrien auch mit Bodentruppen einzumarschieren – und was tut eigentlich die Opposition?

Wer erfahren will, wieso die AKP des Tayyip Erdogan die Wahlen am 1. November überlegen gewonnen hat, sollte jetzt an den Bosporus schauen. Es steht noch nicht einmal fest, wer welches Ministerium in der neuen Regierung leiten wird - aber von einer ‚Übergangszeit' oder gar einer Zeit des Stillstandes kann man wirklich nicht sprechen.


Schon während der Auszählung der Stimmen schoben der Staatspräsident Tayyip Erdogan und sein Ministerpräsident Ahmet Davutoglu die Kampagne an: ‚Eine neue Verfassung – jetzt!'. Aus dem Arbeitsministerium war gestern (11.11.) zu hören, ab Januar würden die Mindestlöhne steigen. Das Kultur- und Tourismusministerium hat ein Förderprogramm aufgelegt, denn die Hotels und Reiseunternehmen hatten eine schlechte Saison.


Gleichzeitig vergeht kaum ein Tag ohne landesweite Razzia. Es geht gegen mutmaßliche Anhänger des Predigers Fethullah Gülen, die – so Tayyip Erdogan – in der Verwaltung und den Sicherheitskräften gegen die Regierung wühlen. Immer seltener hört man die Frage, was den dutzenden Verhafteten eigentlich für Straftaten vorgeworfen werden? Gegen die AKP Regierung oder Tayyip Erdogan zu sein, ist Straftat genug.


Den kritischen EU Fortschrittsbericht hat die Regierung in Ankar noch am Tag seiner Veröffentlichung mit einer eher spöttischen Erklärung pariert: Die EU sei ja nun nach der Griechenland_Krise wegen der vielen Flüchtlinge erneut in großen Schwierigkeiten. In Brüssel habe man offenbar inzwischen - wieder einmal - erkannt, dass man auf eine enge Zusammenarbeit mit der Türkei angewiesen sei. Ungerechtfertigte Kritik helfe da nicht. Außerdem hätte gerade die letzte Wahl gezeigt, wie tief verankert die Demokratie am Bosporus ist.


Aber nicht nur politisch, auch militärisch steht die Türkei an kritischen Kreuzungen.


Im Krieg gegen die PKK im Südosten der Türkei tritt die Armee zu einer Spätherbstoffensive an. Allein seit den Wahlen gibt es dutzende Tote und noch mehr Verletzte. Städte und Gemeinden werden abgeriegelt wie zur Zeit der Ort Silvan im Südosten der Türkei. Der Ausnahmezustand wird erklärt – danach ist kaum mehr zu kontrollieren, was dort geschieht. Täglich hört man allenfalls neue Zahlen über Tote und Verletzte.


Großeinsatz der Polizei auch gegen Annhänger des IS und des Al Kaida Ablegers Al Nusra. Wird damit nur eine Fahndungsliste der (amerikanischen) Geheimdienste abgearbeitet, um mögliche Anschläge auf den G20 Gipfel in Antalya am kommenden Wochenende zu verhindern ? Hat sich die Haltung der türkischen Sicherheitskräfte im Vorgehen gegen den IS und Al Nusra grundlegend gewandelt ? Klar zu erkennen ist das noch nicht. Naheliegend ist aber, dass die Islamisten versuchen werden mit weiteren Attentaten am Bosporus zurückzuschlagen.


Im Vorfeld des G20 Gipfels ließ Ankara außerdem erkennen, dass man für ein neues Vorgehen im syrischen Bürgerkrieg eintreten will. Seit langem wirbt die AKP für eine „Sicherheitszone" und eine „Non-fly-zone" im Norden Syriens. Damit will Ankara vor allem weitere Geländegewinne der Kurden im Norden Syriens verhindern. Bei den Kurden in Nordsyrien handelt es sich bekanntlich um einen Ableger der PKK. Ankara fürchtet, die könnten einen eigenen quasi- Staats auf syrischem Territorium errichten.Entgegen aller Beteuerungen bisher wollen Tayyip Erdogan und seine Regierung nun auch Bodentruppen im Norden Syriens einsetzten. Ankaras Truppen seien zu einem gemeinsamen Vorrücken mit Soldaten anderer Staaten der „Koalition gegen den IS" auf syrisches Territorium bereit. Erdogan lockt: Man könne dort ja auch eine „Sicherheitszone" für Flüchtlinge einrichten.

 

Und die Opposition ? Die Opposition räkelt sich unterdessen in ihrer Wahlniederlage, als sei nichts Aufsehenerregendes geschehen und als stehe nichts Ungewöhnliches an.

 

Die Rechtsnationalisten der MHP sehen mal wieder geheimnisvolle Kräfte (vielleicht auch aus dem Ausland ) am Werk, die den alten Parteivorsitzenden in die Wahlniederlage führten.


Die größte Oppositionspartei, der republikanischen Volkspartei CHP, charakterisiert sich selbst gerne als „kemalistisch-sozialdemokratisch". Kemal Kilicdaroglu ist seit fast 6 Jahren ihr Vorsitzender und Spitzenkandidat. Seither führt er die Partei von einer Wahlniederlage zur anderen. Vor der Wahl im Juni versprach er, bei einem Ergebnis unter 35 % werde er die politische Verantwortung dafür übernehmen. Es wurden dann nur 25 % - und er blieb Parteivorsitzender. Dieses Mal schiebt er die politische Verantwortung für das schlechte Abschneiden seiner Partei bei der Wahl am 1. November der EU zu. Die EU sei dafür verantwortlich, dass in der Türkei ein „Regime der Unterdrückung" entstehe, denn die EU sei mit der Erdogan-Regierung zu nachsichtig.


Auf die Unterschriftensammlung von 42 ehemaligen und amtierenden Bezirksvorsitzende für einen ao Parteitag verspricht er „entschiedene Schritte zur Reform der Partei" - wie nach jeder Wahlniederlage. Konkreter wird Kemal Kilicdaroglu nur bei einem Punkt. Er kündigt eine „Säuberungskampagne" gegen „sogenannte Mitglieder"an, denen es nur um Posten gehe, die den Wahlkampf nicht unterstützt und die Partei verraten hätten.


Kein Wort zum bevorstehenden G20 Gipfel, zum neuen Plan der Regierung, unter Umständen auch mit Truppen im Nachbarland einzumarschieren. Nichts zum Kriegszustand im Südosten des Landes, zur Flüchtlingskrise oder zur schwächelnden Wirtschaft.


Die kurdennahe HDP war noch vor den Wahlen die Hoffnung vieler linksliberaler Kritiker der AKP Regierung. Sie ist auch zwei Wochen nach dem Verlust von fast 2 Millionen Stimmen noch nicht ganz aus der Schockstarre erwacht. Allein der ehemalige Bürgermeister von Diyarbakir, Osman Baydemir, will nicht nur über die unfairen Wahlkampfchancen klagen. Osman Baydemir ist jetzt HDP Abgeordneter im Parlament. Seiner Meinung nach hätte die PKK den Waffenstillstand trotz der aggressiven Politik der Regierung nicht aufkündigen dürfen. Als Antwort hört er Häme von PKK Führern aus den nordirakischen Bergen.


Mustafa Karasu, einer der Führer dort, diktiert einem Journalisten der Zeitung Özgür Gündem ins Blatt, der Kampf der PKK habe mitnichten den Wahlkampf der HDP behindert. Im Gegenteil.: Hätte die HDP die Wähler vom Freiheitskampf der PKK besser überzeugt, hätte sie sogar 20 % der Stimmen erhalten. Und Cemil Bayik legt drei Tage später nach: Ohne den Kampf der PKK für die Freiheit der Kurden hätte die HDP nicht einmal 5 % der Stimmen in der Türkei bekommen.


Statt eines Konzeptes, wie man zu Friedensverhandlungen zurückfinden könnte, betont die HDP nur trotzig, man werde sich weiter bemühen. Auch vom Aufruf der bekannten Kurdenpolitikerin Leyla Zana ( „Wenn das Töten nicht aufhört, trete ich in einen unbefristeten Hungerstreik „) ist nichts mehr zu hören. So bleibt vielen in der Region wieder nur die Hoffnung, dass wenigstens das Winterwetter die Kampfhandlungen in den südostanatolischen Bergen bald behindert.


So richtig die Kritik an der Regierung ist - wer tadelt die Opposition? Mehr als die Hälfte der Wähler hatte sich am 1. November gegen die AKP von Tayyip Erdogan entschieden Gerade mal 11 % stimmten für die Rechtsnationalisten. Wer vertritt die übrigen 40 % ? Franz Müntefering hatte vor einiger Zeit mal gesagt, Opposition ist Mist. In der Türkei wäre eine ernstzunehmende Opposition ein Segen.