Angela Merkel reist nach Ankara – das interessiert die türkische Presse mehr, als der Krieg im eigenen Land. Dabei ist der Kurdenkrieg heute mit dem von einst nicht zu vergleichen.

Es beginnt mit einer SMS. Mitten in der Nacht fiepen plötzlich die Mobiltelefone der Lehrer. „Wir bitten Sie, unter allen Umständen an folgendem Seminar vom 8. bis zum 12. Februar in ... teilzunehmen...“ Das Kulturministerium fordert die Lehrer auf, die Stadt zu verlassen. So beginnt der Staat neuerdings seine Beamten zu evakuieren, bevor Panzer und Infanterie mit schweren Waffen die Stadtteile abriegeln. Dieses Mal erhielten am 6. Februar die Lehrer einiger Viertel des Bezirks Cizre und Idil im Südosten der Türkei solche Nachrichten.


Am gleichen Tag berichtet die türkische Presse: Die dritte Brücke über den Bosporus wird fertig. Ankara versinkt im Schneechaos. Taiwan wird von einem heftigen Erdbeben erschüttert. An der Grenze zu Syrien warten wieder tausende Flüchtlinge, um sich auf türkischem Territorium in Sicherheit zu bringen und in Deutschland nahm die Polizei in Köln während des Karnevals 190 Personen fest, weil sie Frauen auf der Straße sexuell belästigt haben sollen.


Noch vor zwei Jahren, während der sog Gezi-Proteste, schienen die Gräben im Land zwischen Türken und Kurden überbrückbar. Damals hatte sich die Protestbewegung im Westen mehr und mehr auch für das Schicksal der Kurden interessiert, und die Bewegung unter den Kurden solidarisierte sich mit den Demonstranten im Westen.


Heute interessieren sich wieder nur sehr wenige für das, was im ‚Kurdengebiet’ des Landes passiert. Lediglich in einer Zeitung findet sich der Hilferuf des ehemaligen Bürgermeisters der (heimlichen Kurdenhauptstadt) Diyarbakir im Südosten der Türkei, Abdullah Demirbas. Das Blutvergießen müsse endlich aufhören. ‚Die Kurden wollen zusammen mit den Türken in einer demokratischen Türkei leben. Aber mit jedem weiteren Tag dieses zerstörerischen Krieges schwindet die Hoffnung auf eine politische Lösung ein bisschen mehr.“


Bekanntlich hatte die Regierung auf Drängen des Staatspräsidenten Tayyip Erdogan den Friedensprozess mit der PKK spätestens mit der Wahlniederlage der AKP im Juni 2015 aufgegeben. Hält nun das Land auf einen Bürgerkrieg zu wie einst in den 90iger Jahren? Nein, dieser Krieg ist anders als der in den 90iger Jahren.


Seit mehr als einem halben Jahr liefern sich die türkischen Sicherheitskräfte heftige Gefechte, aber nicht mehr auf dem Land, in den Schluchten der Berge und den Dörfern dort – sondern vor allem in den Städten. Gekämpft wird in den Straßen der Städte Diyarbakir, Cizre Silopi, Nusaybin, Sirnak, Semdinli und Yüksekova. Allein in der Stadt Cizre haben Anhänger der PKK über 250 Gräben ausgehoben und schwer überwindbare Barrikaden errichtet, so ein Bericht des Innenministeriums vom Januar. Ganze Stadtviertel sind unpassierbar.


Die türkische Armee schießt mit schwerer Artillerie. In den Kellern liegen Tote, die bislang keiner gezählt hat und Verwundete, die nicht versorgt werden. Jeden Augenblick kann ein Kugelhagel durch die Fenster schlagen, berichtet der ehemalige Bürgermeister von Diyarbakir. Manche werden unter den Trümmern ihrer Häuser begraben, wenn ein schweres Geschoss ihr Heim trifft. Selbst in den Kampfpausen können sich die Menschen nicht versorgen, denn die viele Geschäfte sind zerstört, die anderen geschlossen, weil ihre Besitzer geflohen sind.


Der Direktor von Human Rights Watch, Kenneth Roth, berichtet Anfang Februar: Es ist unmöglich herauszufinden, was dort wirklich geschieht. Je nachdem, mit wem wir sprechen, hören wir eine ganz andere Geschichte. Die Regierung sagt: Wir wollen die Verletzten medizinisch versorgen oder ins Krankenhaus bringen. Aber die PKK lässt die Ambulanzen nicht durch. Wenn wir mit der PKK reden, hören wir: Wir rufen ständig nach Krankenwagen für die Verletzten, aber es kommt keiner.


Natürlich gehen die Zahlen über die Opfer der Kämpfe auseinander. Die Regierung spricht (Ende Januar) von 600 getöteten PKK Mitgliedern (seit August 2015) – und 22 gefallenen Soldaten. Die türkische Menschenrechtsstiftung (TIHV) zählt 200 gefallenen Soldaten und 400 getötete PKK Mitglieder. Aber auch mehr als 220 Zivilisten seien schon ums Leben gekommen. Seit der Kurdenkrieg in den Städten ausgetragen wird, habe sich die Zahl der getöteten Zivilisten verzehnfacht. Rund 1,5 Millionen Zivilisten leben zur Zeit im Krieg. Allein aus der Stadt Cizre mit rund 450.000 Einwohnern sollen mittlerweile mehr als 100.000 Menschen auf der Flucht sein.


Die PKK hatte sich offenbar seit langem auf den Häuserkampf in den Städten der Region vorbereitet. Schon wenige Wochen nach Beginn der Kämpfe stellt ein Polizeibericht Anfang September fest, die PKK habe in den Städten des Südostens der Türkei staatsähnliche Strukturen aufgebaut mit bewaffneten Einheiten, aber auch mit einer eigenen Finanzverwaltung und eigener Gerichtsbarkeit. Sie habe ganze Stadtteile ‚untertunnelt’, überall seien Waffendepots angelegt, maßgeblich organisiert von der „Patriotischen revolutionären Jugendbewegung“(YDG-H), eine Jugendorganisation der PKK .


Anders als in den 90iger Jahren verwickelt die PKK die staatlichen Sicherheitskräfte nun systematisch in Kämpfe in den Städten. Die PKK habe erkannt, so Cengiz Candar, dass sie mit Aktionen auf dem flachen Land gegen die waffentechnische Überlegenheit der türkischen Armee nicht ankommt. Im Straßenkampf aber kann die „Stadtguerilla“ mit tragbaren Raketenwerfern, Sprengfallen und selbst mit Molotow-Cocktails die Waffentechnik des türkischen Militärs parieren. Der Journalist befasst sich seit vielen Jahren mit der Kurdenfrage in der Türkei. Er hatte bereits 2009 beim türkischen Think-Tank TESEV an der Vorbereitung eines Aktionsplanes mitgewirkt, der schließlich zu Friedensverhandlungen mit der PKK führen sollte. Heute gilt Cengiz Candar als scharfer Kritiker der Regierungspolitik.


Es sind vor allem junge Leute, die kämpfen, die Kinder und Enkel der Bauern, die im Kurdenkrieg in den 90iger aus ihren Dörfern vertrieben wurden und sich in den Slums der Städte durchschlagen mussten. Viele der jungen Generation in den Städten haben die Hoffnung auf eine politische Lösung der Kurdenfrage aufgeben, berichten auch die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen im Südosten.


Unterstützung findet die PKK in den Städten auch von der syrischen Bruderorganisation PYD, die dort gegen den IS kämpft. Nicht nur staatliche Stellen berichten, dass über die nahegelegene Grenze zu Syrien immer wieder Hilfsmittel und Waffen zu den Einheiten der PKK in den Städten gelangen. Nicht umsonst sind die syrischen Kurden der PYD für Ankara ein Feind wie die PKK.


Die Armee hatte gezögert, in die Gassen der Städte vorzurücken. Die Soldaten sind im Häuserkampf nicht ausgebildet, die Regierung aber erwartet eine „Säuberung“ aller Stadtteile. Ministerpräsident Davutoglu meldet fast wöchentlich einen „Sieg“, berichtet von hunderten „neutralisierten“ PKK Mitgliedern und dass der „Sieg“ nicht mehr weit sei. Im gleichen Atemzug aber wird in anderen Stadtteilen im Südosten der „Ausnahmezustand“ ausgerufen – und damit zugegeben, dass von einem „Sieg“ nicht die Rede sein kann.


Bei Razzien in den Stadtvierteln werden Hunderte festgenommen, die Regeln des Ausnahmezustandes werden verschärft. Dabei hatte schon vor Jahren eine Kommission des Parlaments untersucht, was das Kriegsrecht im Kurdenkrieg in den vergangenen Jahren gebracht hat. Damals seien rund 55.000 Menschen festgenommen worden, rund 1.300 Fälle von Folter und Misshandlung an Gefangenen wurden untersucht, hunderte Vergewaltigungen durch die Dorfmilizen angezeigt. Das alles habe vor allem der PKK geholfen, neue Kämpfer zu rekrutieren. (siehe auch Artikel (Innenpolitik-Kurden): Hass und Gewalt)


Abdullah Demirtas war 2009 verhaftet worden, nur wenige Monate, nachdem er von zwei Dritteln der Wahlberechtigten der Altstadt von Diyarbakir zum Bürgermeister gewählt worden war. Auch er war beschuldigt worden, Unterstützer und Mitglied der PKK zu sein. Im gleichen Jahr verschwand sein 16 jähriger Sohn im Untergrund und schloss sich der PKK an.


Tragisch ist, dass beide Seiten seit langem wissen: Keiner kann diesen Konflikt militärisch gewinnen. Noch aber hoffen sowohl die Regierung wie auch die PKK, sie könnten die eigene Position für einst kommende neue Verhandlungen in diesem Krieg verbessern. Solange beide Seiten darauf setzen, wird das Sterben im Südosten der Türkei wohl weitergehen.