Ohne die Türkei gibt es keinen dauerhaften Fortschritt im Kampf gegen den IS. Ohne die Türkei gibt es keinen Frieden in Syrien und keine Lösung der Flüchtlingskrise. Darüber sind sich viele einig. Aber gelingt das mit dieser Türkei?

 


Untertreibung gehört nicht zu den herausragenden Merkmalen der türkischen Presse. Alles ist auf Seite 1 „sensationell“, ein „Schock-Ereignis“, eine „spektakuläre Aussage“, bis der Superlativ im Artikel auf Seite 5 auf eine dürre Meldung zusammenschrumpft.


In diesen Tagen erlebt man genau das Gegenteil: Die Zeitungen sind voller Berichte über Attentate, Sprengfallen und Gefechte. Der Leser kommt beim Zählen der Opfer kaum noch mit. Waren die Soldaten und Polizisten, deren Tod heute in der Zeitung stand, dieselben, die gestern bereits gemeldet worden waren, oder sind es neue Opfer? Berichte über Staatsbegräbnisse und Beisetzungen mit militärischen Ehren, Bilder über zerfetzte Autos, zerstörte Wohnhäuser, Trauernde auf jeder Seite. Die Türkei blickt in einen Abgrund. – und die Presse schreibt: Hier gibt es nichts Besonderes zu sehen, bitte lesen Sie weiter!


Dabei war der Bombenanschlag letzten Mittwoch mehr als ein „neuerlicher feiger Akt der Gewalt in der Türkei“, wie der deutsche Außenminister Frank Walter Steinmeier erklären ließ. Die Sicherheitsbehörden wurden am vergangenen Mittwoch besonders verächtlich vorgeführt. Der Anschlag geschah nicht nur im Regierungsviertel, sondern im besonders streng bewachten Teil des Regierungsviertels. Wahrscheinlich wäre nicht einmal in Kabul oder Bagdad Terroristen ein Anschlag auf einen Militärkonvoi im Regierungsviertel gelungen. In einigen Meldungen ist (am 20.2.) gar zu lesen, das mit Sprengstoff beladene Fahrzeug sei bereits Stunden vor dem Attentat im Regierungsviertel auf und abgefahren.

 

Zwei Tage nach dem Blutbad erklärt nun eine Gruppe mit dem Namen „Freiheitsfalken Kurdistans“ (TAK): Wir haben den Anschlag organisiert. Die TAK gehört zur PKK, auch wenn die PKK-Führer um ihr Verhältnis zur TAK herumschwadronieren. Seit ihrer Gründung hat die PKK jede Gründung einer anderen Organisation, die sich auf Abdullah Öcalan beruft, verhindert, wenn nötig mit Gewalt.


Die TAK nennt sich „Stadtguerilla“ und bombte sie im Frühjahr 2005 zum ersten Mal auf die Titelseiten der Tageszeitungen. Danach folgten Attentate in der Hauptstadt, in Izmir und zwei Touristenhochburgen. Zum letzten Mal war von ihr 2011 zu hören. Damals parkte sie ein mit Sprengstoff beladenes Fahrzeug an einem besonders belebten Platz im Stadtzentrum von Ankara. 3 Menschen starben, 34 wurden verletzt.


Dann, vor ein paar Wochen, tauchte sie wieder auf. Im Dezember letzten Jahres, bekannte sich die TAK auf einer Internetseite erneut zu einem Sprengstoffanschlag in Istanbul. Eine Frau war durch einen Sprengsatz auf dem Istanbuler Flughafen Sabiha Gökcen getötet worden. „Wir bekennen uns zu dem Mörserangriff am Istanbuler Sabiha-Gökçen-Flughafen.“ Der Sprengsatz, durch den fünf Flugzeuge schwer beschädigt worden seien, sei die Antwort auf die „faschistischen Attacken“ (der türkischen Sicherheitskräfte), durch die kurdische Städte „zu Ruinen“ würden. (siehe auch Artikel (Innenpolitik): ... es ist Krieg, und keiner schaut hin)


Trotz des Bekenntnisses der sog Kurdischen Freiheitsfalken TAK, Ahmet Davutoglu, der Regierungschef und Tayyip Erdogan, der Staatspräsident, bleiben bei ihrem Verdacht, den sie schon wenige Stunden nach dem Bombenanschlag verbreiten ließen: Der Attentäter war Syrer, geschickt von den syrischen Kurden der PYD. Im Juli 2014 sei er als Flüchtling in die Türkei gekommen. Vertrauen in die „amtlichen Ermittlungsergebnisse“ entsteht so nicht.
Dabei ist es manchmal tatsächlich schwer, zwischen der PKK und der PYD zu unterscheiden, nicht nur, weil die PYD ursprünglich aus der PKK hervorgegangen ist. Auch aktuell gibt es zahlreiche Hinweise, dass beide Organisationen eng zusammenarbeiten. Die PYD unterstützt die PKK im Südosten der Türkei bei ihrem Häuserkampf gegen das türkische Militär. PKK Einheiten kämpfen – je nach Lage - an der Seite der PYD in Syrien gegen den IS. Zweifellos: Je stärker die PYD im Norden Syriens wird, umso schwerer wird der Kampf der türkischen Sicherheitskräfte gegen die PKK in der Region nahe der Grenze zu Syrien


Die PYD streitet eine Beteiligung an dem Attentat in Ankara ab und beschuldigt ihrerseits den türkischen Geheimdienst MIT. Der habe den Anschlag organisiert, um der Regierung einen Vorwand, noch intensiver als bisher in Nordsyrien gegen die PYD vorgehen zu können.


Andere wiederum behaupten, der angebliche syrische Attentäter sei ein Verwandter eines hochrangigen Offiziers des militärischen Abschirmdienstes des Assad Regimes. Und schließlich spekulieren einige auch, das Selbstmordattentat weise auf den IS. Der wolle die Türkei provozieren, in Syrien einzumarschieren, um ihn dort in kriegerische Auseinandersetzungen mit Russland zu verwickeln und so die „Zusammenarbeit“ zwischen den USA und Russland endgültig zu sprengen, vielleicht sogar einen derben Keil in die NATO zu treiben.


Was zutrifft wird vielleicht nie ermittelt, wie so vieles am Bosporus. Was noch entscheidender ist – keine dieser Spekulationen ist vollkommen unrealistisch. Die Türkei, die noch bis vor kurzem als „stabiles Land“ in einem unüberschaubaren Krisenherd galt, steht am Abgrund unüberschaubarer Instabilität.
Der Krieg gegen die Kurden im Südosten der Türkei trägt mittlerweile die Gewalt ins ganze Land.


Darüber hinaus sind noch andere bewaffnete Banden unterwegs, auf die selbst in der Türkei kaum einer achtet, angesichts der großen Probleme, mit denen das Land zur Zeit ringt. Die Zahl der (offenbar politisch motivierten) Morde, die nicht aufgeklärt werden, nimmt erneut zu. Anfang Februar wurden allein in Istanbul an drei aufeinander folgenden Tagen drei Kaffeehäuser von unbekannten Tätern mit automatischen Waffen beschossen. Mehrere Menschen starben, etliche wurden verletzt. Vor gut einer Woche (10.2.) wurden die islamisch-rechtskonservativen Blätter Yeni Safak und Akit, die der Regierung sehr nahe stehen, mit Molotow-Cocktails angegriffen. Drei Tage später wurde bei einer routinemäßigen Kontrolle eines Fahrzeugs in Istanbul im Kofferraum 54 Molotow-Cocktails entdeckt, außerdem 6 selbstgebaute Bomben und 5 Pistolen.


Täglich melden Polizei und Staatsanwaltschaft dutzende Festnahmen – aber zufriedenstellend aufgeklärt wird kaum eine Gewalttat. Dabei wurde das Budget nur des türkischen Geheimdienstes (MIT) in den letzten 5 Jahren von gut 500 Mio TL auf über eine Milliarde verdoppelt. Trotzdem kamen seit Mai 2013 allein bei 6 Anschlägen 230 Menschen ums Leben, bald 1.000 wurden verletzt. (siehe auch Artikel (Innenpolitik): Tödliche Schwäche).


Auch die Parteienlandschaft, selbst die Opposition zur AKP Regierung, ist zerrissen. Die kurdennahe HDP kümmert sich nicht mehr um die Themen des gesamten Landes Sie blickt, wie eh und je, nur noch auf den von den Kurden bewohnten Südosten. Gleichzeitig verabschiedet sie sich mehr und mehr von der parlamentarischen Arbeit. Die CHP (Republikanische Volkspartei), die größte Oppositionspartei im Parlament, streitet offen über ihre Haltung zur Kurdenfrage oder zum Artilleriebeschuss der Armee auf Stellungen der syrischen Kurden. So kommt nicht einmal eine allgemeine gemeinsame Erklärung aller Parteien gegen terroristische Gewalt kommt zustande.


Außenpolitisch ist die Lage nicht besser. Die Türkei ist Mitglied zweier „Koalitionen gegen den IS“(der USA und Saudi-Arabiens), die verschiedene Ziele verfolgen. Gleichzeitig schießt das türkische Militär auf die syrischen Kurden der PYD, einen wichtigen Gegner des IS. Inzwischen kann Assad die Türkei gar als Hindernis für einen Waffenstillstand aufzählen.


Gleichzeitig wird der Konflikt zwischen Ankara und Russland immer hitziger. Bagdad und Teheran aber sind enge Verbündete Russlands.
So knirscht es immer lauter in den türkisch-iranischen Beziehungen, auch weil die Türken so uneingeschränkt auf ein Bündnis mit Saudi-Arabien setzen, dem Erzfeind Teherans. Die Beziehungen Ankara-Bagdad sind mittlerweile so angespannt, dass der Irak der Türkei gar mit „militärischen Aktionen“ droht, wenn die türkischen Truppen ihre Einmischung auf irakischem Territorium nicht vollständig aufgeben.


Zur gleichen Zeit läuft in der AKP nahen Presse (Yeni Safak ) eine Kampagne: Die Regierung solle endlich den USA unmissverständlich mit dem Bruch der Zusammenarbeit drohen. Die Beziehungen mit Washington seien zerrüttet. Wenn Amerika die syrischen Kurden von der PYD weiter unterstütze, müsse man dieser USA den türkischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik wieder schließen.


Derweil hört man sogar aus der NATO ernsthaftes Räuspern. Der Außenminister Luxemburgs meint: Die Türkei könne nicht auf bedingungslosen Schutz der NATO setzen.


Ohne die Türkei lässt sich der Kampf gegen den IS nicht erfolgreich führen und eine Befriedung des Bürgerkrieges in Syrien nicht erreichen. Das betonen die USA immer wieder. Ohne die Türkei lässt sich die Flüchtlingskrise in Europa nicht bewältigen, meinen auch die EU und vor allem auch die deutsche Bundesregierung. Gelingt das mit dieser Türkei?