Was ist los in der Türkei ? Was ist los in der türkischen Armee ? Wieso wurden alle überrascht ?


Es war der erste Putschversuch im Zeitalter des Internets. Es gab schon erste Bilder von Panzern, die in Istanbul auf die Bosporus-Brücken fuhren, ohne dass irgendjemand wusste, ob die Brücken gesperrt sind oder nicht und warum – und die Moderatoren der Nachrichtensender stammelten etwas von einer möglichen Terrorwarnung oder Übung und ob das auf den Bildern wirklich ein Militärfahrzeug sei.


Die meisten wehrpflichtigen Gefreiten, die dann auf den Bosporus-Brücken und vor dem Flughafen Atatürk standen, dachten übrigens offenbar auch an eine Übung. Man habe ihnen ‚aufsitzen!’ befohlen, es gehe zu einem militärischen Training. Erst als sie von Zivilisten umringt und angegriffen wurden, sei ihnen klar geworden, dass da was nicht stimmt – geben einige in der Presse zu Protokoll.


Offenbar waren aber auch der türkische Geheimdienst, der Militärgeheimdienst, die Aufklärung der NATO und die US Geheimdienste überrascht. Das wiegt wirklich schwer Immerhin befehligte da jemand mehrere tausend Soldaten, Panzer, Hubschrauber und Kampfjets. Auch wenn die Putschisten in nur wenigen Städten, vor allem in Istanbul, Ankara, Izmir und Samsun, operierten, auch wenn schließlich alle erklärten, das sei doch so stümperhaft durchgeführt worden: Es war ein kompliziertes und großes militärisches Unternehmen von drei Waffengattungen – verteilt über das halbe Land. Es war ein Unternehmen, an dem offenbar mindestens 5 Generäle und 29 Offiziere vom Rang eines Obersten beteiligt waren, das also von langer Hand vorbereitet worden sein muss – und von dem trotzdem keiner etwas wusste; und das, obwohl eine Einheit der Putschisten in Sichtweite der US Kampfjets vom türkischen Stützpunkt Incirlik gestartet war.


Das wird die NATO, die EU und die Vereinigten Staaten wohl noch lange beschäftigen: denn immerhin handelt es sich bei der türkischen Armee und ihren 615.000 Mann unter Waffen um die größte Armee innerhalb der NATO nach den USA.


Bislang ist noch nicht viel bekannt. Zwar wissen der türkische Staatspräsident Tayyip Erdogan und sein Regierungschef Binali Yildirim schon, wer dahintersteckt. Das sei der Prediger des Islam Fethullah Gülen. Der lebt seit einigen Jahren in Amerika – einst ein Freund und Verbündeter Erdogans, heute sein ziemlich bester Feind. Warum? Auch das bleibt bis heute im Dunkeln. Die Gülencis, so nennt man die Anhänger dieses Predigers, unterwanderten den Staat und versuchten die Regierung zu stürzen, erklären Politiker der AKP immer wieder. Sein Orden ist nun sogar laut Gesetz eine Terrororganisation – Razzien gegen diesen Orden gibt es immer wieder, auch dutzende Festnahmen. Nur welche konkreten Straftaten sie nun wirklich begangen haben sollen erfährt man nicht.
Auf die schlichte Frage, wer den Putschversuch denn nun befehligt habe, kann bisher weder Tayyip Erdogan noch Binanli Yildirim noch der Generalstabschef eine Antwort geben. Ob also wirklich mehr aufgeklärt wird, ist fraglich, denn natürlich ist es unseriös, schon jetzt den anklagenden Zeigefinger zu strecken.


Bekannt ist nur: Niedergeschlagen hat den Putschversuch wohl die Polizei. Es kam offenbar auch vor allem zwischen der Polizei und Armeeeinheiten zu Gefechten. Zu Schießereien zwischen Soldaten, die auf der Seite der Regierung und solchen, die auf der Seite der Putschisten stehen, wurde bislang nichts berichtet.


Was also ist los in der türkischen Armee? Wie stark sind dort die Kräfte, die gegen die AKP Regierung sind? Zweifellos haben die AKP Regierungen seit 2002 sehr viel unternommen, um sich beim Militär unbeliebt zu machen.


Als 2002 die AKP zum ersten Mal die Regierung in Ankara stellte, waren die Ausgaben für das Militärs traditionell der größte Budgetposten der Regierung. Seither kürzt der AKP Finanzminister das Budget der Armee jedes Jahr ein bisschen mehr. Nach Angaben der NATO gab die Türkei im Jahre 2000 noch 3.2 % des Bruttoinlandsprodukts für das Militär aus – 2013 waren es nur noch 1,8 % des Bruttoinlandsproduktes. ( zum Vergleich (2013) Die USA gaben 4,4%, Deutschland 1,3% des Bruttoinlandsproduktes für die Streitkräfte aus )


Während beispielsweise zwischen 2006 und 2013 die Ausgaben für die Armee um 8 % gekürzt wurden, stiegen die Ausgaben für die „innere Sicherheit“, Polizei und Inlandsgeheimdienst (MIT) um 107% . Die wurden also mehr als verdoppelt
Gleichzeitig beschloss die Mehrheit der AKP Abgeordneten im Parlament etliche Gesetze, die Privilegien und Vorrechte des Militärs gegenüber der Politik beseitigten.


Außerdem überzog die Regierung seit 2009 die Armee mit einer beispiellosen Prozesswelle. Zahllose Offiziere, Generäle und schließlich auch der Generalstabschef kamen in Untersuchungshaft. Sie wurden verdächtigt, einer Geheimorganisation (Ergenekon) anzugehören, die konkrete Putschpläne gegen die Regierung ausarbeite. 2015 wurde das riesige Verfahren nach mehreren hundert Tagen Verhandlung, nach tausenden Seiten Anklagen und Prozessunterlagen – eingestellt.


Ab jetzt war der Orden des Predigers Fethullah Gülen im Fadenkreuz der Anwälte der Regierung. Ab jetzt wurde eine ungenannte Zahl von Angehörigen der Armee verdächtigt, Gülenci zu sein.Bis dahin schien der Machtkampf zwischen Regierung und Armee um die Frage zu gehen: Wer bestimmt im Land, die Generäle oder die gewählten Minister. Danach ging es vor allem darum, bleibt die AKP an der Regierung ?


Im Frühjahr 2014 wurden der Presse Informationen zugespielt, wonach auf einem der wichtigsten Marinestützpunkte der Türkei (Gölcük in der Nähe von Istanbul ) alle Offiziere und Unteroffiziere lückenlos überwacht würden. Danach gäbe es Berichte über ihre Religion, Zugehörigkeit zu Vereinen, an welchen Veranstaltungen sie teilnehmen, welche Zeitungen oder Zeitschriften sie lesen – und diese Daten würden auch über die Familienangehörigen der Offiziere erhoben.


Öffentlich wurden Differenzen zwischen der Regierung und dem Generalstab zum letzten Mal im Oktober 2014 bekannt. Damals rangelten Politik und Armee um die Frage, wer die Gendarmerie befehligt. Die Gendarmerie sind kasernierte Sicherheitskräfte, die auf dem Land als Polizeikräfte für Sicherheit und Ordnung sorgen und sowohl dem Innenministerium als auch dem Generalstab unterstehen.


Anlass für den Streit war die sog. Korruptionsaffäre, über mehrere Minister, darunter der Innenminister, ihr Amt verloren. Damals sollte die Gendarmerie auch bei Razzien gegen mutmaßlich korrupte Politiker eingesetzt werden. Die Regierung unterstellte schließlich die Gendarmerie ausschließlich dem Innenministerium.


Ein Jahr später, im Mai 2015, überreichte der türkische Geheimdienst MIT dem Generalstab eine Liste mit 1.200 Namen von Angehörigen der Streitkräfte, die er verdächtigte, Kontakte zu der Bewegung des Predigers Gülen zu haben. Es werde eine Untersuchung gegen „mehr als 1000 Personen“ geben, so der Innenminister damals, darunter seien auch zwei Generäle.


Wieder ein Jahr später, im März ,2016 (31.3.) wurde eine offizielle Stellungsnahme des Generalstabes an die Presse weitergereicht. Danach dementiert die Generaliät jede Verbindung zur sog Gülen-Bewegung. „Disziplin, und das Prinzip Befehl und Gehorsam sind grundlegend für die Türkischen Streitkräfte. Es ist unmöglich, dass es irgendeine Verbindung zu einer illegalen Befehlsstruktur oder ihren Aktionen gibt“. Die Armee stehe ohne Wenn und Aber loyal zur Demokratie und jeder grundlose Verdacht gegenüber den Streitkräften schade nur der Moral der Truppe.

5 Monate später nun der Putschversuch aus den Reihen der Armee. Heisst das, dass auch der Generalstab nicht weiß, wie es in den Einheiten der Luftwaffe und des Heeres aussieht?


Auffallend war, dass sich lediglich einer der führenden Generäle in der gestrigen Nacht zu Wort meldete (Ümit Dündar) und erklärte, die Armee unterstütze diesen Putsch nicht. Der Chef der Seestreitkräfte hatte sich auf ein Kriegsschiff abgesetzt, der Oberbefehlshaber der Luftwaffe war in Istanbul auf einer Hochzeitsfeier. Er wurde ebenfalls von den Putschisten festgesetzt – und ist anscheinend bislang noch nicht befreit.


Kurz: Es ist noch nicht klar, ob die Regierung wirklich alles unter Kontrolle hat, so wie sie es immer wieder beteuert. Immerhin verschickte sie am Nachmittag an alle Türken eine SMS (16.7.: 17.00) : Wir rufen alle Bürger der Türkei auf, die Demokratie zu verteidigen und auf die Straße zu gehen (Tum halkimizi milli iradeye, demokrasiye sahip cikmak uzere meydanlara davet ediyoruz) Das kann auch bedeuten: Die Regierung weiß noch lange nicht, was in ihrer Armee wirklich los ist.


Für die NATO, die EU und die Partner der Militärkoalition gegen den sog Islamischen Staat ist das beunruhigend. Beunruhigend ist wohl auch, dass die Regierung und der Staatspräsident den Putschversuch offenbar zum Anlass nimmt, auch in der Justiz gleich noch mit ‚aufzuräumen’. Das Land rutscht mit jedem Monat mehr in eine instabile Schieflage.