Jetzt müsse „unbarmherzig aufgeräumt“ werden, sagen türkische Politiker. Die Kritik daran aus dem Westen sei erschreckend, meinen selbst kritische Journalisten am Bosporus. Stimmt das?

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Man müsse die „faulen Äpfel“ aussortieren – rechtfertigt der türkische Aussenminister Mevlut Cavusoglu die Razzien, mit denen die „unbarmherzige Säuberung“ (Wirtschaftsminister a.D. Ali Babacan) in allen Bereichen der Gesellschaft nun durchgeführt werde.


Reihenweise setzen türkische Journalisten, die mit bereits mit dem Adjektiv „kritisch“ geadelt worden waren, Kommentare gegen die EU und westliche Medien ab: Wieso werde nicht die Niederschlagung des Putsches gelobt, sondern Erdogan kritisiert, wenn er gegen die Gülen Bewegung vorgeht. Das seien zweifellos die Putschisten. Selbst der Botschafter Großbritanniens in Ankara oder der Havard Ökonom Dani Rodrik glauben nun, der Prediger des Islam, Fethullah Gülen, habe den Putschversuch angezettelt.


Der Energieminister am Bosporus und Schwiegersohn von Tayyip Erdogan, Berat Albayrak, verkündet den Mitgliedern der ausländischen Presse (27.7.): 95-96 % der türkischen Bevölkerung glaubten, dass die Terrororganisation von Fethullah Gülen hinter dem Putschversuch stehe.


Aber geht es darum, wer was glaubt? Geht es nicht darum, was bewiesen ist? Da gibt es bislang allerdings mehr Lücken als Belege.


Bereits vor fünf Jahren (2011) sprach man von der Gülen-Bewegung in der Türkei als der „unheimlichen Macht des Imam“. In den Medien, dem Bildungssektor, der Polizei, Justiz und Armee traf man immer häufiger Anhänger des Predigers Fethullah Gülen. Inzwischen will die Regierung herausgefunden haben: Die Mitglieder dieses Ordens hätten jahrelang z.B. die Eignungsprüfungen für den Zugang zum Öffentlichen Dienst, zur Polizei und Armee so manipuliert.So kamen zunächst ihre „Ordensbrüder“ bei einer Einstellung zum Zuge. Das Verteidigungsministerium habe jetzt entdeckt, dass alle Prüfungsfragen des „Zentrums für die Auswahl der Studenten“ (ÖSYM) über 14 Jahre gestohlen worden seien, so Verteidigungsminister Fikri Isik.


Wahrscheinlich trifft das für viele Einrichtungen des Öffentlichen Dienstes zu, möglicherweise selbst für halbstaatliche Unternehmen wie Turkish Airlines. Aber war das der Regierung nicht schon lange bekannt? Selbst Journalisten aus dem Ausland wurden seit Jahren mit Material über Unregelmäßigkeiten beim Zugang zu allen möglichen Einrichtungen des Öffentlichen Dienstes gefüttert. Wie kann das den türkischen Diensten entgangen sein?


Als 2002 Tayyip Erdogan’s AKP an die Macht kam, war ihre Position alles andere als sicher. Erdogan hatte die damals mächtigste Institution des Landes gegen sich, das Militär. Die kontrollierten auch die Gendarmerie und Teile der Polizei. Die Wirtschaftselite des Landes wollte die AKP nicht. Der damalige Staatspräsident (Necdet Sezer), ein beinharter Kemalist, blockierte jede wichtige Gesetzesinitiative mit seinem Veto.


Erdogan suchte nach Verbündeten – und fand Fethullah Gülen. Im März 2012 sprach Reva Bihalle (ein Fachmann in Sachen Mittlerer Osten und Türkei der Universität Stratford) mit einem Insider der Gülen-Bewegung, mit Emre Dogru. Drogu erzählte, Erdogan könne Gülen nicht leiden, aber beide seien aufeinander angewiesen. Gülen suchte eine starke politische Partei, um seinen Einfluss auszudehnen – und Erdogan benötigte Unterstützung für die Politik seiner Partei.


Noch im November 2013 bedankte sich Fethullah Gülen in einer mehrseitigen Anzeige in türkischen Zeitungen für Genesungswünsche vom Bosporus. Gülen hatte sich einer Operation unterziehen müssen. Wer hatte ihm alles geschrieben ? Die Liste liest sich wie das Who is Who der türkischen Politik und Wirtschaft – beginnend mit Tayyip Erdogan und Abdullah Gül – bis zu Mustafa Koc, damals Chef einer der größten Wirtschaftskonzerne des Landes.


Doch schon wenige Wochen später waren die Verbündeten von einst erbitterte Feinde. Wahrscheinlich stritten sich beide Fraktionen um die Aufteilung der Pfründe im Staat. Außerdem war es Erdogan wohl auch leid, sich mit der Gülen-Bewegung absprechen zu müssen.


Seit dieser Zeit wurde fast wöchentlich von Entlassungen im Öffentlichen Dienst berichtet, weil dieser Polizeidirektor oder jener hohe Beamte mutmaßlich Anhänger der Gülen-Bewegung sei(siehe auch Artikel (Innenpolitik): Polizisten in Handschellen).


Das Land hat viel Erfahrung mit undurchschaubaren Fraktionskämpfen innerhalb des Staates. Früher war dann vom „tiefen Staat“ in der Türkei die Rede – auch damals blieb immer im Dunkeln, wer da weswegen gegen wen eigentlich zu Felde zieht. Nun macht das Wort vom „Parallel-Staat“ oder der „Parallel-Struktur“ im Staat die Runde.


Seit Anfang erscheinen 2014 Bücher und Artikel, wonach Gülen alle Fäden im Geheimdienst, bei der Polizei und Justiz in der Hand halte. Seit dieser Zeit schon werden „faule Äpfel“ aussortiert. Seither wurden wohl auch die langen Listen von „Verdächtigen“ erstellt. Über nachgewiesene Straftaten der Verhafteten war sehr selten etwas zu lesen.


Die regierungsnahe Zeitung Yeni Safak berichtet, Gülencis in der Staatsanwaltschaft und Polizei hätten tausende Politiker und Richter illegal abgehört. Der Hohe Justizrat (HYSK) eröffnet im Februar 2014 dazu ein Ermittlungsverfahren. Er kommt aber offenbar nicht weiter, so die Zeitung Hurriyet zu dieser Zeit.


Dann, im Februar 2014, zeigt der Anwalt Hudaverdi Yildirim die Gülen Bewegung bei der Generalstaatsanwaltschaft an. Fethullah Gülen solle angeklagt werden, weil er einen Putschversuch gegen die Regierung organisiere. Im April 2014 eröffnet die Staatsanwaltschaft offiziell ein Ermittlungsverfahren gegen Fethullah Gülen. Der Prozess gegen ihn wurde schließlich im Januar 2016 in Abwesenheit des Angeklagten eröffnet. (Gülen lebt seit 1999 in Amerika, seit 2008 mit dem Aufenthaltstitel einer Greencard).


Obwohl dieses Verfahren noch nicht einmal eröffnet war, erklärt der Nationale Sicherheitsrat bereits im Oktober 2014: Die Gülen-Bewegung ist eine Bedrohung für die Nationale Sicherheit. Die Beschlüsse des Nationalen Sicherheitsrates sind grundsätzlich geheim, deshalb sind auch die Gründe dafür nicht bekannt. Seither aber genügt es offenbar, ein Anhänger oder Sympathisant des Predigers Gülen zu sein, um ins Visier der Ermittlungsbehörden zu geraten. Dabei blieb unklar, welches Gesetz damit gebrochen wurde.


Wenige Monate später, 2015, spricht keiner mehr von der Gülen-Bewegung sondern nur noch von der Fethullah Terrororganisaton (FETÖ). Wer diese Bezeichnung aufgebracht hat, ist nicht bekannt. Sie wird aber schon 2015 in Gerichtsakten offiziell geführt. Dabei stand zu jener Zeit die Gülen-Bewegung noch gar nicht auf der Liste der Terrororganisationen der Türkei. Erst vor drei Monaten, im Mai 2016 , empfahl der Nationale Sicherheitsrat, die Gülen-Bewegung in die offizielle Liste der Terror-Organisationen aufzunehmen. Dass dies bis zum Putschversuch am 15.07. geschehen war, ist nirgends vermerkt. Sind also alle Kontakte zur Gülen-Bewegung bis zum Mai 2016 eigentlich straffrei?


Es geht nicht um eine Verteidigung der Gülen-Bewegung. Das war schon immer ein dubioser Geheimbund mit fragwürdigem Wertesystem. Es geht um den Satz, den fast jeder türkische Politiker inzwischen ständig wiederholt: Es werde bei der Verfolgung der Putschisten auf rechtsstaatliche Grundsätze geachtet.


Die Vorbereitung und der Versuch eines Umsturzes ist eine schwere Straftat – wie schwer, das zeigt allein die Zahl der Toten und Verletzten in der Nacht vom 15. Auf den 16. Juli. Was aber ist bewiesen, wenn Festgenommene mit üblen Blessuren im Gesicht der Öffentlichkeit vorgeführt werden und ihre Geständnisse täglich die Zeitungsseiten füllen. Ist nicht schon die Veröffentlichung von Ermittlungsergebnissen eine strafbare Handlung?  Was heisst das, wenn der Wirtschaftsminister Zeybekci sagt, man werde die Putschisten „ in eineinhalb Quadratmeter großen Löchern wie Ratten verrecken „ lassen?


Dass nun auch zahlreiche Personen festgenommen werden, die als Kritiker Gülens seit langem bekannt sind, aber auch mit der Politik der Regierung nicht einverstanden waren, nährt außerdem Zweifel.


Schließlich wird nun auch noch in wenigen Tagen angeblich bewiesen, was trotz jahrelanger intensiver Ermittlung bislang nicht aufgeklärt werden konnte: Wie kam der rechtsnationalistische Politiker Muhsin Yazicioglu ums Leben? Wer war für das Massaker an den Schmugglern von Uludere schuld ? Wie war das mit dem Mord an dem armenischen Journalisten Hrant Dink ? Jetzt weiß man es: Bei all diesen Untaten hatte die Gülen-Bewegung ihre Hand im Spiel und natürlich auch bei der PKK.


Es stimmt wohl: Wäre der Putschversuch geglückt, wäre das Land wahrscheinlich in einen grässlichen Bürgerkrieg geschliddert. Das haben die Politiker und die Demonstranten auf den Straßen in der Nacht vom 15. Auf den 16. Juli verhindert – und das zwar zweifellos eine historische Leistung. Es stimmt aber wohl auch: Wie dieser Putschversuch am Bosporus aufgearbeitet wird, das entscheidet über die Zukunft des Landes. Viel Grund zum Optimismus gibt es da bislang nicht.