‚Alle warten nur darauf, dass dieses furchtbare Jahr zu Ende geht’. Das denken viele am Bosporus. Jeder Tag beginnt mit einer neuen schlechten Nachricht. Dabei hat man das, was tags zuvor geschah, noch nicht einmal richtig kapiert.


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Die Bürgermeister von Diyarbakir sind verhaftet. Die Annullierung des Wahlergebnisses in 28 Gemeinden im Südosten der Türkei und die Einsetzung von „Statthaltern“ aus Ankara hat man schon beinahe wieder vergessen, denn gestern erst ging es um die Wahl der Rektoren an den Universitäten. Auch die gibt es ab sofort nicht mehr. Wer eine Hochschule leitet, entscheidet jetzt der Staatspräsident Tayyip Erdogan alleine. Zum Republikfeiertag werden außerdem mehr als 10.000 Beamte entlassen – und die können sich gegen die Entlassung nicht einmal wehren. Die Bestimmungen des Ausnahmezustandes verbieten das. Im Südosten der Türkei greifen mutmaßlich PKK Mitglieder ein Büro der Regierungspartei AKP an – und nicht die Polizei oder das Militär. In einer anderen Stadt lauern mutmaßlich Rechtsradikale in einem Cafe auf einen Abgeordneten der Oppositionspartei CHP und schießen auf ihn.


Der Staatspräsident kündigt die Wiedereinführung der Todesstrafe an. Es sei ihm egal, was der Westen dazu sagt. Er fuchtelt Richtung NATO und USA: Man könne sich auch vorstellen, von Russland ein Raketenabwehrsystem zu kaufen. Er beleidigt den Regierungschef in Bagdad („ Mit dir rede ich gar nicht! Wer bist du denn im Vergleich zu mir! „) Es sei ihm egal, was Bagdad oder jemand in Syrien sagt. Die Türkei werde – auch militärisch – in diesen Ländern so eingreifen, wie es für sie zweckmäßig sei.
Heute Morgen nun (31.10) – gerade sind die Republik-Feiern vorüber - stürmt die Polizei die größte Oppositionszeitung Cumhuriyet. Cumhuriyet ist die älteste Zeitung der Republik, Cumhuriyet heißt übersetzt ‚Republik’. Es hagelt knapp zwei Dutzend Haftbefehle. Ein Abgeordneter des Parlaments wird in Handschellen fotografiert. Der Vorwurf: Verbindungen zur „Terrororganisation Fethullah Gülen“ bzw zur PKK. Das ist noch eine Ohrfeige für alle auf dem Weg zum vergitterten Polizeiauto: Die Justiz müht sich nicht einmal um einen zitierbaren Haftgrund. Und als Klatsche obendrauf die Anweisung: Keinen Rechtsbeistand für die Festgenommenen!


Wohin soll das führen?


Tayyip Erdogan hatte am 1. Oktober zur Eröffnung des Parlaments nach der Sommerpause unmissverständlich erklärt, worum es geht: Oberste Priorität habe die Verfassungsreform. Es geht ihm um die Verfassung einer Türkei, die dem Präsidenten Erdogan weitgehende Rechte einräumt. Diesem Ziel wird alles untergeordnet, die Innenpolitik wie die Außenpolitik.


Bislang jedoch sagten alle Umfragen: Die Mehrheit der Türken wollen kein Präsidialsystem. Die Regierungspartei AKP hat nicht einmal genügend Abgeordnete im Parlament, um darüber ein Referendum abhalten zu lassen.
Zunächst nahm er den Parteichef der rechtsnationalen MHP, Devlet Bahceli, an die Kandarre. Der hatte Erdogan einst in die Nähe von Adolf Hitler gerückt, Erdogan sei für ihn kein Präsident, er strebe die Ein-Mann-Diktatur an usw usw. Doch dann wollten einige MHP Funktionäre den Vorsitzenden Bahceli loswerden. Tayyip Erdogan aber hielt ihm überraschend die Stange. Ein günstiges Gerichtsurteil bewahrte Devlet Bahceli vor einem Parteitag – und seine Kritiker munkeln, der Staatspräsident sei außerdem im Besitz von Videos, die Bahceli in kompromittierenden Situationen zeigten.


Wie dem auch sei, Devlet Bahceli mutierte plötzlich vom beinharten Gegner eines Präsidialsystems zum Befürworter eines Referendums über ein Präsidialsystem. Mit seinen Abgeordneten ist eine Volksabstimmung darüber jedenfalls machbar. So ein Schwenk geht aber nicht einmal in der rechtsnationalistischen MHP ohne Knirschen. Inzwischen versucht man es mit der Losung: Man sei für ein Referendum, aber beim Referendum stimme man gegen das Präsidialsystem.


Sicher ist das Ergebnis bei einem solchen Referendum also noch nicht. Gewinnen kann Tayyip Erdogan diese Abstimmung nur unter rechtsgerichteten Wählern.


Ihnen gilt die Pose und Politik des starken Mannes in Syrien und im Irak. Ihnen gilt auch das kompromisslose Vorgehen gegen alle kurdennahen Politiker. Schon im letzten Jahr hat der neuerliche Krieg der türkischen Armee gegen die PKK der Regierungspartei AKP bei den Neuwahlen im November wichtige Stimmen gebracht. Jetzt warnen die regierungsnahen Zeitungen fast täglich vor einem „zweiten Putschversuch“. Der Chefredakteur der Zeitung Yeni Safak sieht das Land gar von Feinden umzingelt, die an einem Bürgerkrieg am Bosporus zündeln. Der Regierungschef Binali Yildirim nickt dazu und warnte gestern auf einem Empfang zum Gedenken an die Gründung der Republik, ohne ein Präsidialsystem, ohne den starken Mann an der Spitze, drohe dem Land gar die Spaltung.
Den konservativen Wählern gilt auch das Angebot, die Todesstrafe wieder einzuführen. Schon vor Jahren hatten MHP Mitglieder öffentlich dafür Unterschriften gesammelt. Schon früher ergaben alle Umfragen, rund 60 % der Türken seien für die Wiedereinführung der Todesstrafe. Vielleicht wird solch ein Artikel dem konservativen Wähler dann in einer Präsidialverfassung zu Abstimmung vorgelegt.


Man sollte es ernst nehmen, wenn Erdogan seinen Anhängern zuruft: Was der Westen sagt, das interessiere ihn nicht. „Oberste Priorität“ haben die Verhandlungen über einen EU Beitritt für ihn nicht. Er setzt darauf, dass ihn weder die USA, noch die NATO oder die EU fallen lassen, ob die Türkei ein EU-Beitrittspartner ist oder nicht. Er weiß, es gibt für den Westen keinen größeren Alptraum, als eine Türkei im Chaos - neben dem zerfallenen Syrien, dem zerfallenden Irak, neben dem unsicheren Kantonisten Iran, dem instabilen Kaukasus und dem herausfordernden Russland. Deshalb rechnet Ankara auch angesichts des neuerlichen brutalen Vorgehens gegen die Pressefreiheit mit Empörung aus Europa – aber nicht mit mehr.


Es ist ein gewagter Kurs. Polizei und Armee sind durch immer neue „Säuberungswellen“ auf längere Zeit geschwächt. Die Wirtschaftsdaten zeigen ins Minus. Die Reichen in Istanbul, die es sich leisten können, haben schon ihre Koffer gepackt. Im Viertel der Wohlhabenden, in Nisantasi, ist in den Seitenstraßen fast jedes dritte Geschäft oder Büro „zu vermieten“. ‚Alle warten nur darauf, dass dieses furchtbare Jahr zu Ende geht’ – das hatte kürzlich ein Händler des Bazars in Istanbul einer Zeitung geklagt. Was, wenn das nächste Jahr noch schlechter wird? Es ist riskant zu hoffen, dass sich am Ende alle drohenden Konflikte doch noch irgendwie kontrollieren lassen – auch wenn man sie täglich neu befeuert.