Tags eins nach dem Massaker in Istanbul – wieso kann die Regierung ihre Bürger so unzulänglich schützen ?

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Am Tag eins nach dem furchtbaren Anschlag auf den Nachtclub in Istanbul empfängt der türkische Staatspräsident Tayyip Erdogan im Präsidentenpalast ein schwer behindertes kleines Mädchen mit seinen Eltern. Das Kind hat ein Bild vom Staatspräsidenten gezeichnet. Es kann nicht verständlich sprechen, kaum laufen, die Arme sind verrenkt, aber es umarmt Tayyip Erdogan,. Dann kommt Ministerpräsident Binali Yildirim dazu. Auch er wird von dem Mädchen umarmt. Die Eltern stehen daneben und lächlen verlegen. Das ist der einzige Fernsehbeitrag, der an diesem Tag Tayyip Erdogan in den Nachrichtensendungen zeigt.


Ansonsten gilt ein Berichtsverbot der Regierung über den Anschlag. Solch ein Verbot ist inzwischen Routine – wie die Nachricht über die „Krisensitzung des Kabinetts“. Üblich ist aber auch: Kein Ereignis, über das die staatliche Medienkontrolleure ein Berichtsverbot verhängten, wurde je umfassend aufgeklärt. Zuletzt wurde den Medien untersagt, über die Ermordung des russischen Botschafters in Ankara zu berichten. Er war bei einer Ausstellungseröffnung vor laufenden Kameras erschossen worden. Der Attentäter war bekanntlich selbst Polizist - aber bislang ist nicht einmal geklärt, wer für seine Einstellung bei der Polizei verantwortlich war – und wie er sogar zum Personenschutz gelangte.


Tatsächlich zeigt sich immer deutlicher, was der Putschversuch und die „Säuberungen“ der Regierung davor und danach angerichtet haben. An jungen Polizeibeamten, die mit Maschinenpistolen auf den Straßen patrouillieren, fehlt es nicht. Allein in Istanbul waren in der Silvesternacht 17.000 im Einsatz.


Es fehlt an der Aufklärung und Führung. Schon vor dem Putschversuch wurden hunderte führende Ermittler in Sachen Terrorbekämpfung suspendiert ( siehe auch Artikel (Innenpolitik, 13.01.2016): Tödliche Schwäche) Seit dem Putschversuch entließ die Regierung noch einmal an die 10.000 Polizeioffiziere. Bekanntlich traute Tayyip Erdogan traute nicht einmal mehr seinen eigenen Bodyguards. Er liess auch die Präsidentengarde auflösen.


Nur wenige Tage vor dem Putschversuch hatte ein Mitarbeiter des türkischen Geheimdienstes MIT dem Oppositionsblatt Cumhuriyet von einer unerträglichen Arbeitsatmosphäre innerhalb des Nachrichtendienstes berichtet. Jeder misstraue jedem. Manche Abteilungsleiter verlangten von ihren Untergebenen, dass sie sich jeden Tag persönlich an- und abmelden und ließen ihre Agenten wissen: ‚Ich weiß sogar, wie du atmest’.
Nach dem Putschversuch entließ die Regierung rund 100 Agenten. Ministerpräsident Binali Yildirim streute gar öffentlich Misstrauen gegen den Chef der Abwehr, Hakan Fidan. Von dem habe er bislang keine befriedigende Antwort erhalten, wieso es keine Warnung vor dem Putschversuch gab, beklagte er sich. Inzwischen verweist die Regierung darauf, dass mithilfe des Geheimdienstes allein in den letzten Tagen 67 mutmaßliche IS Mitglieder festgenommen wurden. Aber auch rasche und zahlreiche Festnahmen nach jedem Anschlag gehören inzwischen zur „Routine“.


Ebenso wie Falschmeldungen und Komplotttheorien: Der amerikanische Geheimdienst habe vor einem Anschlag auf diesen Nachtclub gewarnt, erzählt angeblich der Nachtclubbesitzer. Am gleichen Tag wird das Dementi der US Botschaft gedruckt. Im Internet wird ein junger Mannes mit einem Foto fälschlicherweise als Attentäter bezeichnet. In der regierungsnahen Zeitung Yeni Safak mutmaßt ein Kommentator, der Westen benutze die Terrororganisationen, um einen Krieg gegen die Türkei und den Islam zu führen (Yusuf Kaplan)


Viele bekommen von alle dem nichts mit, denn in etlichen Stadtteilen von Istanbul und der Region um das Marmarameer gibt es seit vier Tagen keinen Strom. So eine lange Störung in der Stromversorgung gab es seit bald 15 Jahren nicht mehr. Ohne Strom gibt es auch keine Heizung, kein Licht, kein Internet, etliche Krankenhäuser ohne Generatoren waren in Not und viele Gewerbegebiete mussten gleich zu Jahresbeginn geschlossen bleiben. Der Vorsitzender der internationalen Vereinigung der Energiewirtschaft (IAEE), Professor Dr. Kumbaroglu, errechnete für Istanbul einen Schaden von mehr als einer halben Million Euro pro Stunde.


Der Grund für die Störung ist unklar. Zunächst lässt das Energieministerium erklären, starke Schneefälle und ein Sturm habe dutzende Strommasten beschädigt. Unklar bleibt, wieso die Reparatur so lange dauert. Dann verwirrt die halbstaatliche Nachrichtenagentur Anadolu ihre Leser. Sie meldet, auch das Stromnetz sei von Terroristen angegriffen worden. Häcker hätten die Stromversorgung lahmgelegt. Man habe solch einen Terrorangriff erwartet. Danach wird überhaupt nichts mehr über die Ursache des Stromausfalles berichtet.


Als der Regierungschef Binali Yildirim darauf angesprochen wurde, meinte er: Der Staat könne schließlich nicht für alles verantwortlich gemacht werden. Außerdem wolle er darauf hinweisen, dass viele Stromkunden ihre Rechnung nicht bezahlt hätten.


Wir entwickeln uns zurück zu einem Land der Dritten Welt, klagt eine Kommentatorin (Barinc Yinanc) in der Zeitung Hürriyet und zitiert die Untersuchung eines Forschungsinstitutes (Universum), wonach der erste Wunsch der jungen Generation der Türkei sei, ins Ausland zu gehen. Das sei auch kein Wunder, wenn die Regierung nicht einmal das Leben ihrer eigenen Bürger, das der Diplomaten oder ihrer Gäste schützen könne.