Dieter Sauter - Eine Mehrheit für Tayyip Erdogan?

Details: Erstellt: 17. Februar 2017

Der Kampf um die JA Stimmen für das Präsidialsystem ala Tayyip Erdogan hat begonnen. Abgestimmt wird darüber am 16. April. Stimmt die Mehrheit mit JA?

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Fängt der Profi mit was Leichtem an? Tayyip Erdogan reist am Wochenende in drei Tagen in fünf Städte. Irgendwohin? Nein, dorthin, wo er bei der Präsidentschaftswahl 2014 die meisten Stimmen bekommen hatte (Kahramanmaraş, Malatya, Elazığ, Adiyaman und Gaziantep). Er wirbt dort für die neue Verfassung, die ihm uneingeschränkte Macht per Gesetz garantieren soll.

Worum geht es im Einzelnen? Das weiß keiner – oder genauer: Bei einer Umfrage (ANAR) letzten Monat behaupteten gerade mal 14 %, sie kennen die Verfassungsänderungen. Auch wer es wissen will, wird in der Presse mit den immer gleichen Hinweisen versorgt: Das geltende parlamentarische System habe im Land immer wieder zu schweren Krisen geführt. Koalitionen hätten sich gegenseitig blockiert. Kräfte aus dem Ausland konnten sich in die innertürkischen Angelegenheiten einmischen. Sogar ‚weltweite Operationen’ gegen die Einheit und Stabilität des Landes waren möglich. Erst die Wahl Tayyip Erdogans zum Staatspräsidenten 2014 habe die schwer beschädigte Demokratie des Landes zunächst gerettet. Doch nur mit einer „wirklich starken Präsidentschaft“ könne man mit den Herausforderungen im In- und Ausland fertig werden.

Für viele Wähler geht es am 16. April nicht um den einen oder anderen Artikel der neuen Verfassung. Es geht den meisten nur um die Frage: Bin ich für die Regierung – oder gegen sie. Auch deshalb fängt der Wahlprofi Erdogan in den Städten an, in denen er einst die meisten Stimmen erhielt. Dort kann er am besten testen, ob er seine Anhänger überzeugen kann. Auf die wird es nämlich ankommen. Es muss ihm gelingen, seine Wähler von einst noch einmal zu mobilisieren, dann wird das Referendum durchgehen.

Aber wie soll er seine Anhänger begeistern? Die Lage dafür ist nicht günstig. Die Anschläge des IS oder Sprengfallen der PKK fordern fast täglich neue Opfer.
Urlauber wollen überall hin, nur nicht in die Türkei. In Istanbul klagen Hotelbesitzer, dort wo bisher vor allem Feriengäste flanierten, mache sich der Straßenstrich breit. Die Ratingagentur Fitch hat die Kreditwürdigkeit der Türkei gerade auf „Ramschniveau“ runtergestuft. Lt türkischer Bankenaufsicht nahmen die Schulden der Unternehmen im letzten Jahr um fast 30 % zu. Die Inflation stieg auf knapp 10 %, die Arbeitslosigkeit auf über 12 %, bei der Jugend (15-24 Jährige) gar auf über 22%.

Die Lage ist ernst. Der Staatspräsident nimmt sie ernst. Seit einem Monat scheucht er alle auf. Das Image von Tayyip Erdogan als Macher, als Kümmerer, der sich der Sorgen „seines Volkes“ annimmt, muss glänzen. Zunächst drängt er in einer Telefonkonferenz alle Gouverneure des Landes: Ihr müsst eure Helfer von Tür zu Tür schicken. Sie müssen die Menschen fragen, ob sie genügend Kohlen zum Heizen haben oder ob sie Lebensmittel brauchen. Dann wird man noch nach Jahren gut über euch sprechen.

In der Handels- und Handwerkammer (TOBB) ruft er ein Arbeitsbeschaffungsprogramm aus. Er verspricht außerdem staatliche Lohnzuschüsse, wer einen Jugendlichen neu einstellt. Für 500 000 Arbeitslose soll es ein Weiterbildungsprogramm geben. Firmen, die dem Staat Geld schulden, bekommen ab sofort einen günstigen Wechselkurs garantiert. Die türkischen Staatsbürger im Ausland ruft der Staatspräsident auf, in diesem Jahr mit Freunden am Bosporus Urlaub zu machen. Der Arbeits- und Sozialminister verspricht den Rentnern eine Sonderzahlung. Die Mehrwertsteuer auf Haushaltsgeräte wird ab sofort bis zum 30. April (!) auf Null gesenkt. Die Grundsteuer beim Hauskauf soll bis September dieses Jahres gesenkt werden und 250 000 neue Haus- und Grundbesitzer sollen staatliche besonders unterstützt werden. Eine Reform der Arbeitsgesetze, die lt Gewerkschaften den Kündigungsschutz aufweicht soll bis nach dem Referendum verschoben werden und Erdogans Artikelschreiber versprechen: Nach einem Ja beim Referendum werde auch die Türkische Lira wieder um 20 % zulegen. Möglich, dass noch einige Wohltaten für die AKP Wähler folgen werden.

Stimmen braucht Tayyip Erdogan außerdem von den Rechtsnationalisten der Partei MHP. Ohne deren JA sind 50 % Zustimmung zur neuen Verfassung schwer erreichbar. Jedoch: Kann er sich auf die verlassen? Im Parlament ist die MHP der neuen ‚Verbündete der AKP. In der Partei selbst aber gibt es heftigen Streit. Zahlreiche einflussreiche MHP Funktionäre sind seit langem offen gegen den jetzigen Vorsitzenden Devlet Bahceli. Sie wollen beim Referendum mit NEIN stimmen. Vor wenigen Tagen trafen sie sich in einem Hotel, um ihre NEIN Kampagne zu organisieren. Da drehte ihnen der Hotelbesitzer einfach den Strom ab. Der Arm von Tayyip Erdogan reicht weit.

Für den MHP Chef Devlet Bahceli hält er darüber hinaus einen „stellvertretenden Präsidenten“Sitz frei. Den Abgeordneten der MHP verspricht er schließlich, im neuen Kabinett könnten auch MHP Abgeordnete Minister werden. Außerdem versichert er, nach dem Referendum sei auch die Wiedereinführung der Todesstrafe nicht mehr weit. Dafür hatte die MHP Jugend schon vor Jahren Unterschriften gesammelt. Da die EU-Beitrittsverhandlungen mit einem Präsidialsystem ala Erdogan wohl sowieso auf Eis gelegt werden, ist auch die Wiedereinführung der Todesstrafe kein heißes Eisen mehr.

Für die Rechtsnationalisten wird außerdem die Erzfeindschaft zu Griechenland wieder ein bisschen aufgewärmt. Erdogan lässt seinen Generalstabschef außerdem mit zwei Booten der Marine auf der Insel Kardak absetzen und dort mit den Kommandeuren der Land- und Luftstreitkräfte spazierengehen. Ob die Insel zur Türkei oder Griechenland gehört, ist umstritten. Vor 21 Jahren war die Ministerpräsidentin Tansu Ciller gar bereit, mit Athen um den unbewohnten Felsen einen Waffengang anzuzetteln. „Jawohl!“ freute sich jetzt der stv. MHP Fraktionschef Erkan Akcay, „Kardak ist für uns ein wichtiges Symbol. Das sollte den Griechen eine Warnung sein!“

Damit nicht genug: Lt Hochschulrat (YÖK) haben Kinder von Soldaten, und Polizisten, die „im Kampf gegen den Terror“ gefallen sind, ab sofort einen Sonderstatus im Bildungswesen. Während andere erst nach Prüfungen und penibler Punktvergabe Zugang zu bestimmten Hochschulen erhalten, soll für sie im Hochschuljahr 2017/18 ein Studienbeginn einfach sein. Auch das gefällt der MHP, die sich traditionell vor allem für die Belange der Sicherheitskräfte einsetzt. Der stellvertretende Ministerpräsident Numan Kurtulmus verspricht außerdem, mit einem starken Präsidenten werde man bald nichts mehr vom Terror hören.

Reicht das, um sich die Zustimmung beim Referendum zu sichern? Immerhin schickt Erdogan seinen Regierungschef Binali Yildirim auch nach Deutschland, um auch unter den Auslandstürken für JA zu werben. Fast täglich geistert eine neue Umfrage durch die türkischen Zeitungen. Sie haben alle eines gemein: Ihr „Forschungs“ergebnis richtet sich nach ihrem Auftraggeber. Die Ergebnisse schwanken zwischen 60 % Ablehnung und 60 % Zustimmung zum Präsidialsystem. Die meisten unbeteiligten Beobachter rechnen mit einer Mehrheit für Tayyip Erdogan’s Verfassung – aber auch das sind nur Vermutungen.

Schon um die Jahreswende war dagegen klar: Abgestimmt wird unter den Regeln des Ausnahmezustandes. Seit 10 Tagen überziehen die Sicherheitskräfte nun das Land mit schier beispiellosen Razzien nach „Terroristen“. Selbst die offiziellen Angaben sind widersprüchlich. Wurden in diesen Tagen 3.500 oder 4.500 „Terrorverdächtige“ festgenommen? Keiner weiß, wo die ellenlangen Listen von Verdächtigen plötzlich herkommen. Belohnt wird, wer einen Verdächtigen den Behörden meldet. Knapp 4 Mio. TL wurden im letzten Jahr für solche Belohnungen ausgegeben. Die Festgenommenen aber können nach den Regeln des Ausnahmezustandes gegen ihre Verhaftung keinen Widerspruch einlegen – auch wenn sie wochenlang in Untersuchungshaft sitzen.

Der türkische Innenminister lobt außerdem Erfolge beim Kampf gegen „terroristische Propaganda“ in den sozialen Medien. Gegen knapp 3.800 Personen habe die Justiz in den letzten 6 Monaten deswegen Ermittlungsverfahren eingeleitet, 1.500 seien verhaftet worden. Bekannt ist die Entlassung der Akademiker, die letztes Jahr einen „Friedensaufruf“ gegen das Vorgehen der Armee im Südosten unterzeichnet hatten. Hochschullehrer berichten darüber hinaus, in ihren Seminaren tauchten plötzlich Unbekannte auf. Wenn die aufgefordert werden zu sagen, woher sie kommen, meinten die bloß: Sie werden noch von mir hören – was so viel heißt wie: Ich bin hier, um aufzupassen, was Sie sagen. In den staatlichen Behörden sei das ähnlich, hört man hier und da.

Mancher Forschungsinstitute rechnen mit einer geringen Wahlbeteiligung beim Referendum, weil etliche NEIN Sager unter diesen Bedingungen eher zu Hause bleiben. Dem Staatspräsidenten kann das nur recht sein. Bei geringer Wahlbeteiligung sind 50 % JA Stimmen leichter zu erreichen.