Dieter Sauter - Vorwärts – zur „islamischen Nation“?

Details: Erstellt: 15. November 2017

Ein Imam als Standesbeamter, ein Imam als Fernsehstar, ein Imam als Familienfürsorger? Einst sollte die Religionsbehörde dafür sorgen, dass Predigt und Politik getrennt bleiben. Was ist heute?

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Gestern (15.11.) wurde offiziell die erste Ehe in der Republik Türkei von einem islamischen Prediger der Religionsbehörde (Diyanet) vollzogen. Bislang konnte das nur ein Standesbeamter. Der Prediger, Ahmet Durmus, ermahnte die frisch vermählten Eheleute: Ich als Vater von 8 Kindern ermahne euch, ihr müsst mindestens 5 Kinder haben!

Den stellvertretenden Ministerpräsidenten Bekir Bozdag kennen nicht viele außerhalb der Türkei. Am Bosporus gilt er als treuer Gefolgsmann des türkischen Staatspräsidenten Tayyip Erdogan. Bozdag war früher Justizminister in Ankara und hat sich mit scharfen Sprüchen einen Namen gemacht. Wenn die Opposition ein Gerichtsurteil kritisierte, dann war das für ihn eine „Straftat“, weil die Unabhängigkeit der Justiz verletzt werde. Er selbst warf dem Verfassungsgericht aber auch schon mal Bruch der Verfassung vor, wenn ihm ein Urteil nicht passte.

Vor wenigen Tagen hat er seine Zuhörer erstaunt. Auf einem Symposium in Istanbul erklärte er, die Religionsbehörde (Diyanet) sei der Garant „für den Zusammenhalt der Nation“.

Erstaunlich daran ist: Auf den ersten Blick scheint diese Behörde dazu vollkommen ungeeignet. Dafür wurde sie nie gegründet, im Gegenteil.

Das Diyanet ist eine Einrichtung, die es in keinem anderen Land mit überwiegend muslimischer Bevölkerung gibt. Der Gründer der modernen Türkei, der Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk, war ein vehementer Verfechter einer weltlichen Republik. Er schaffte nach 1920 die Scharia ab, verbot religiöse Orden, das Tragen religiöser Kleidung außerhalb der Moscheen, ließ alle religiösen Schulen schließen und führte ein staatliches weltliches Schulsystem ein.

Wie die Prediger in der Moscheen kontrollieren?

Aber wie die Prediger in den Moscheen und die religiösen Vereine dort kontrollieren? Dazu schuf er eine staatliche Behörde, das Diyanet İşleri Başkanlığı, das ‚Amt für religiöse Angelegenheiten’ in der Türkei. Diese Religionsbehörde sollte vor allem darauf achten, dass sich die Imame und Moscheenvereine aus der Politik raushalten.

Zunächst wurden die Prediger finanziell abhängig vom Staat, sie wurden Angestellte der Religionsbehörde, also Staatsbeamte. Später verfasst das Diyanet sogar wöchentlich Predigten – und die Imame mussten die beim Freitagsgebet ihrer Gemeinde vortragen. Schließlich wurden besondere staatliche Schulen geschaffen, um die Imame auszubilden. Danach hörte man vom Diyanet vor allem, wenn die Imame dort Fragen der Gläubigen beantworteten - wie: Sind Tatoos unislamisch? Kann man mit unrecht erworbenem Geld auch Opfertiere kaufen? Darf man beten, auch wenn man betrunken ist?

Nach und nach aber hat sich die Rolle des Diyanet gewandelt – vor allem seit 2010. Man kann an der Entwicklung der Religionsbehörde studieren, wie zielstrebig Tayyip Erdogan den Umbau des Staates voran treibt.

Die erste „islamische Kirche“ weltweit ?

2010 horchte die westliche Welt auf: Der damalige Vorsitzende der Religionsbehörde, Ali Bardakoglu, galt als Reformer. Er wollte eine Religionsbehörde, unabhängig vom Staat. Damit wäre das Diyanet so etwas wie die erste “islamische Kirche” geworden. Aber nur einige Wochen später tritt Ali Bayramoglu von seinem Posten zurück. Nur zwei Jahre später, 2012, hörte man aus dem Diyanet, die Religionsbehörde habe einen Strategieplan 2012-2016 verabschiedet, um dem Regierungschef Tayyip Erdogan eine „gläubige Jugend heranzuziehen“. Erdogan war damals Ministerpräsident.

Als die AKP von Tayyip Erdogan 2002 an die Regierung kam, gab es in der gesamten Türkei knapp 76.000 Moschen. Zu jener Zeit hatte die Religionsbehörde gut 74.000 Angestellte. Heute stehen am Bosporus weit mehr als 90.000 Moscheen, die Religionsbehörde hatte 2016, vor dem Putschversuch, aber sogar mehr als 140.000 Angestellte. Nach dem Putschversuch und den „Säuberungen“ im Diyanet wurden rund 20.000 Angestellte entlassen oder verhaftet, sodass jetzt noch gut 120.000 bei der Religionsbehörde angestellt sind.

Über wieviel Geld verfügt die Religionsbehörde?

Dafür gibt der Staat 2017 offiziell 6,5 Mrd Türkische Lira (TL) aus. Darüber hinaus verfügen die Religionsbehörde und die Moscheen über Gelder von religiösen Stiftungen, Spenden – sodass Fachleute mit einem Gesamtbetrag von 7,5 Mrd TL rechnen, das sind gut 1,5 % des Gesamthaushaltes. Das ist zunächst nicht sensationell viel. Immerhin werden für das Gesundheitswesen rund 5 % des Gesamthaushaltes ausgeben, für das Bildungswesen sogar gut 12%. Es ist aber der Haushaltsposten, der unten den AKP Regierungen seit 2002 am meisten gestiegen ist. Und so soll es offenbar bleiben. 2020 wird die Religionsbehörde schon über mehr als 10 Mrd TL verfügen. Die Ausgaben für Bildung und Erziehung gingen inzwischen sogar relativ zurück – während ein wachsender Teil des Bildungshaushaltes nun in die Kassen der zahlreichen religiösen Schulen fließt. Die hatten bis 2004 praktisch keine Rolle gespielt.

Mit dem Personal und dem größeren Haushalt wuchsen auch die Aufgaben des Diyanet. Leitete die Religionsbehörde 2002 noch 3.364 Korankurse, so waren es 2017 schon 18.355.

Islamische Sozialfürsorge

Darüber hinaus unterhält das Diyanet in den 81 Provinzen des Landes inzwischen 957 Dienststellen. Diesen Dienststellen (mütfülük) sind Kinder-und Jugendorganisationen des Diyanet angegliedert. Sie sollen, so der Chef des Diyanet, „verhindern, dass sich die jungen Menschen Gruppen anschließen, die die Religion nur zu ihren eigenen Zwecken“ missbrauchen. Außerdem sind Büros für „Soziales, für Familienangelegenheiten und religiöse Führung“ eingerichtet. Dort berät man Familien bei „psychischen Problemen“ und jeder kann kommen, der Probleme mit Arbeitslosigkeit hat oder arm ist. Das Diyanet, einst ein staatliches Kontrollorgan, wird zur staatlich geförderten islamischen Sozialfürsorge, die nach und nach staatliche Aufgaben übernimmt.

Folgerichtig ließ die Regierung kürzlich ein Gesetz verabschieden, wonach die Prediger in diesen Dienststellen rechtskräftig eine Ehe schließen können, wie dies bislang nur auf den Standesämtern möglich war. Eine weitere neue Regelung besagt übrigens: Wer sich scheiden lassen will, muss sich nun auch zuerst bescheinigen lassen, dass er die Familienberatungsstelle aufgesucht hat.

Vor wenigen Tagen hat das Diyanet außerdem mit den staatlichen Studentenwohnheimen schriftlich vereinbart: Die Religionsbehörde wird zunächst in 209 Wohnheime „Glaubensbeauftragte“ entsenden. Sie sollen zur „Gesundheit von Körper, Geist und Moral“ der Studenten beitragen. (mehr dazu hier)

Nur für Muslime sunnitischen Glaubens

Ferner erhält das Diyanet zunehmend Einfluss auf die öffentlichen Bebauungspläne des Ministeriums für Umwelt und Städteplanung, vor allem wenn es darum geht, in welchen Wohnvierteln, neben welchen Einkaufszentren oder auf welchem Universitätsgelände eine Moschee errichtet werden soll. Schließlich wird das Diyanet nun auch offiziell bei der Erstellung der Berichte des türkischen Nationalen Sicherheitsrates und des Geheimdienstes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung einbezogen.

Alle „Dienstleistungen“ des Diyanet werden übrigens ausschließlich für die Muslime sunnitischen Glaubens erbracht. Nur für sie unterhält das Diyanet die Moscheen und finanziert die Prediger. Die Juden müssen ihre Synagogen und Rabbis selbst finanzieren, wie die Christen ihre Kirchen und Priester. Selbst die Aleviten, eine eigene muslimische Glaubensrichtung mit wohl 15 Millionen Mitgliedern in der Türkei, auch sie erhalten keinen Pfennig aus dem Haushalt des Diyanet, obgleich auch sie mit ihren Steuergeldern diesen Haushalt mitfinanzieren.

Mehr als 200 Aleviten hatten dagegen übrigens schon vor Jahren vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof geklagt. Im April letzten Jahres urteilte der Gerichtshof nun: Diese Ungleichbehandlung behindere die Religionsfreiheit. Obwohl die Urteile aus Straßburg für Ankara bindend sind, erklärte der Chef des Diyanets damals nur: Die Beschlüsse der türkischen Nation stünden himmelweit über den Urteilen jeden Gerichtshofes der Welt.

Predigt und Politik

Das Diyanet, ursprünglich eine Behörde, die dafür sorgen sollte, dass Politik und Predigt getrennt bleiben – sie wird mehr und mehr auch zum Organ politischer Botschaften. Man kann sie im Fernsehsender Diyanet.TV verfolgen oder auf dem Radiokanal des Diyanet hören und natürlich ist die Religionsbehörde auch im Internet vertreten.

Bekanntlich wurde letztes Jahr, nach dem gescheiterten Putschversuch, von den Minaretten der Moscheen aus die Bevölkerung zur “Wache über die Demokratie” auf die Straßen gerufen. Ungeklärt blieb, wer dafür die Anweisung gab. Danach wurde häufiger bekannt, dass Prediger offen für Tayyip Erdogan die Propagandatrommel rührten. Schließlich lud auch der Innenminister Suleyman Soylu im März zu einer Kundgebung für ein Ja zu Verfassungsreferendum in Bursa in eine Moschee ein.

Wir „ wollen eine neue Generation schaffen die mit wehenden Fahnen durch die Straßen des Landes marschiert, wie damals während des Putschversuches am 15. Juli“ (2016 gegen die Putschisten), erklärte Erziehungsminister Ismet Yilmaz vor einem Jahr in einem Fernsehinterview. Eine der kritischen Stimmen des Landes, Nuray Mert, bedauerte damals: Noch nie sei ein AKP Minister für friedliches und demokratisches System eingetreten, in der es die Jugend gar nicht nötig hat, mit Fahnen in den Straßen zu demonstrieren.

(aktualisiert 16.11.)