Dieter Sauter
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Vielseitig ungebildet ?

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Erstellt: 19. November 2017

Studentenwohnheime, in denen junge Männer und Frauen zusammenwohnen, werden geschlossen. Ein Rektor verbietet Frauen Miniröcke oder ärmellose Kleidung zu tragen. An den Schulen werden „eindeutige Abbildungen“ aus den Büchern entfernt. Einzelfälle – oder was heisst das?

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Nicht wenige halten die Politik der AKP von Tayyip Erdogan für erfolgreich: Die meisten deuten auf den Wirtschaftsaufschwung, den Straßenbau und öffentlichen Wohnungsbau. Die Mindestlöhne seien kräftig gestiegen und die Dienstleistungen in den Gemeinden viel besser als früher. Auch der öffentliche Nahverkehr verdiene endlich diese Bezeichnung und das Gesundheitswesen erst. Selbst viele Erdogan-Gegner erkennen das an. Nicht umsonst ist die AKP bislang die Partei mit der größten Zustimmung am Bosporus.

Für einen Bereich stimmt das Argument vom Fortschritt aber nicht – für das Bildungswesen.

Schon vor gut 10 Jahren, als noch Aufbruchsstimmung herrschte und die Türkei nicht vor allem mit Menschenrechtsverletzungen von sich reden machte, schon damals gab es mahnende Stimmen: Wenn jetzt nicht rasch die Reform des Bildungswesens kommt - wer soll dann in 15 oder 20 Jahren das Land regieren? Wer die Unternehmen und Forschungsabteilungen an Bosporus leiten?

Es gab Hoffnung – „Mädchen an die Schule!“

Es gab Hoffnung. Ende 2004 startete die AKP Regierung eine Kampagne mit der Losung: „Mädchen an die Schule!“ Das hatte niemand von einer islamisch-konservativen Regierung erwartet. Bauern, die ihre Töchter auf die Schule schickten, konnten damals sogar eine finanzielle Entschädigung erhalten, denn nun hatten sie ja eine kostenlose Arbeitskraft weniger.

Doch das ist Geschichte. 2008 sprach keiner mehr davon. Seither rutscht das Land auf der internationalen Skala in Sachen Ausbildung weiter und weiter nach unten.

Vor sechs Jahren (2011) warnte die OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung mit 35 Mitgliedsländern): Die Lehrer in der Türkei müssten endlich besser bezahlt werden. Deren Gehälter lägen noch unter dem Niveau von 1995. Die Folge: Viele Lehrer hatten noch einen zweiten oder dritten Job, um über die Runden zu kommen.


Ein Jahr später (2012) mahnte die OECD, in der Türkei hätten viele Mädchen und Frauen keine Ausbildung. 2014 warnte die OECD: Das Bildungsniveau der türkischen Bevölkerung liege deutlich unter dem Durchschnitt aller OECD Länder. Letztes Jahr im Dezember dann: Das Niveau des Bildungssystems in der Türkei sei inzwischen sogar unter das Niveau von 2003 zurückgefallen. Zur Erinnerung: 2002 stellte die AKP zum ersten Mal die Regierung. Dieses Jahr im August musste man dann lesen: Im Vergleich mit den anderen OECD Staaten liege die Türkei in Sachen Bildungsniveau mit Mexiko nun auf dem letzten Rang.

Zwar hatte die Regierung 2009 die Lehrmittelfreiheit eingeführt, also Schulbücher kostenlos verteilt. 2012 wurde die Schulzeit von 8 auf 12 Jahre verlängert. Die Zahl der Kinder, die nicht einmal Lesen und Schreiben lernen, weil sie nicht auf die Grundschule gehen, sank von 1,1 Mio (2008) auf rund eine halbe Million im Schuljahr 2016-2017.

Die Schüler sind nicht dumm – der Unterricht ist schlecht

Aber auch das Niveau des Unterrichts sank. Ein Beispiel: 2014 beklagte sich die türkische Stiftung für Wirtschaftspolitische Forschung in der Türkei (TEPAV), dass mehr als 90 % der türkischen Schüler selbst nach 1.000 Stunden Englisch-Unterricht höchstens grundlegende Sprachkenntnisse beherrschen. Das liege aber nicht am mangelnden Talent der Schüler, sondern an der schlechten Ausstattung der staatlichen Schulen und den veralteten Unterrichtsmethoden. Kurz: Die Schüler besuchten zwar den Unterricht, gelernt werde aber trotzdem nichts. Andreas Schleicher, der Direktor der PISA Studie (Program for International Student Assessment der OECD) fasste das vor wenigen Tagen so zusammen: Türkische Schüler seien zwar gut darin, auswendig Gelerntes wiederzugeben, aber sie könnten es nicht anwenden. Viele Unterrichtshalte seien außerdem veraltet – und die Lehrer nur unzureichend ausgebildet.

Es gibt auch Fortschritte, und zwar bei der Förderung der islamisch-religiös ausgerichteten Bildung.

Das begann ebenfalls schon 2004. Damals gingen drei Millionen Schüler auf ein Gymnasium am Bosporus – und gerade mal 85.000 auf die islamisch-religiös ausgerichteten Imam-Hatip Schulen. Ursprünglich (1940) waren diese Schulen eingerichtet worden, um die Prediger an den Moscheen auszubilden. Nach und nach wurden sie zu Schulen für eine ‚höhere Bildung’ ausgebaut.

Natürlich ist auf den Imam-Hatip-Schulen die Religion (der Islam sunnitischer Prägung) ein Hauptfach und die erste Fremdsprache ist Arabisch, die Sprache des Koran. Doch mit einem Abschluss an einer Imam-Hatip-Schule konnte man damals nicht auf eine Universität wechseln. Das änderte die AKP Regierung 2004. Seither ist ein Imam-Hatip-Abschluss gleichzeitig die Hochschulreife.

„Das ist erst der Anfang – wir brauchen mehr“

Die Folge: Die Zahl der Imam-Hatip-Schüler nahm rasant zu. Inzwischen lernen auf knapp 3000 Imam-Hatip Mittelschulen und Gymnasien 1,2 Mio Jugendliche. Auch das scheint noch nicht aufsehenerregend, das sind gerade rund 10 % der Schüler auf den Mittelschulen und Gymnasien.

Doch das sei erst der Anfang, so der Außenminister(!) Mevlüt Cavusoglu Ende letzten Jahres: Wir werden mehr Imam-Hatip-Schulen eröffnen, verspricht er. Dafür wurde zunächst ein Gesetz erlassen, das überall die Gründung einer Imam-Hatip-Schule ermöglicht. Bis dahin konnte man nur in einer Gemeinde mit mehr als 50.000 Einwohnern eine solche Schule eröffnen. Diese Regelung wurde aufgehoben.

Außerdem änderte die Regierung die Aufnahmeregeln für die Gymnasien. Jetzt kann der Schüler wählen: Entweder er besteht eine Aufnahmeprüfung - dann kann dann auf eines der staatlichen Gymnasien. Schreckt er vor der Aufnahmeprüfung zurück, dann kann er trotzdem aufs ‚Gymnasium’, nämlich auf eine Imam-Hatip-Schule. Die verlangt keine Aufnahmeprüfung und der Staat teilt dem Schüler auch noch einen Platz auf einer Imam-Hatip Schule in der Nähe seines Wohnortes zu. Das kommt den Eltern entgegen, die vor den hohen Fahrkosten zu den Gymnasien in den großen Städten zurückschrecken.

Bei der Auswahl der Lehrer beobachtet die linke Lehrergewerkschaft Egitim-Sen ebenfalls einen besonderen Trend. Im Zuge der Säuberungsaktionen nach dem Putschversuch wurden weit mehr als 6.000 Lehrer endgültig entlassen. Es sei kein Problem, so die Gewerkschaft, entlassene Lehrer zu ersetzen. Immerhin sind mehr als 200.000 junge Pädagogen arbeitslos. Aufgefallen war aber, dass die entlassenen Lehrer meist gewerkschaftlich organisiert waren. Die Gewerkschaft befürchtet, dass die entlassenen Lehrer durch AKP nahe Pädagogen ersetzt werden. Deshalb hatte sie auch vor dem Verwaltungsgericht im September Klage eingereicht. Beim Einstellungsgespräch von 20 000 Lehramtsanwärtern wurde nämlich auch die Frage gestellt: ‚Was halten Sie von unserem Führer?’

Außerdem wechselten 5.000 Beschäftigte der Religionsbehörde Diyanet ins Bildungs- und Erziehungsministerium. (mehr dazu hier)

Auch die Lehrinhalte werden mehr und mehr nach dem sunnitischen Islam justiert. Bereits 2009 hob die Regierung das Mindestalter für Korankurse auf. Bis dahin waren Korankurse erst nach der fünften Klasse erlaubt. 2014 verfügte das Bildungsministerium: Jede Schule müsse einen Gebetsraum vorhalten. Einen Raum für Erste Hilfe aber – den könne man einrichten, wenn Platz vorhanden sei.

Einstein genügt nicht

Im gleichen Jahr verlangte Tayyip Erdogan, die Schüler sollten nicht nur Einstein kennen, sondern auch die muslimischen Gelehrten. Dann hörte man von ihm, nicht Kolumbus habe Amerika entdeckt, sondern die Türken. Der stellvertretende Ministerpräsident (Numan Kurtulsmus) hält Darwins Evolutionstheorie für längst widerlegt. Der Wissenschaftsminister, Fikri Isik, widerspricht nicht, sondern legt noch eins drauf: Es waren türkische Wissenschaftler, die vor 1.200 Jahren entdeckt haben, dass die Erde keine Scheibe sondern eine Kugel ist, behauptet er. Dagegen weiß weltweit jedes billige Nachschlagewerk: Davon hatte der griechische Philosoph und Wissenschaftler Phytagoras schon vor 2.600 gesprochen.

Der Wissenschaftsminister wurde dann Verteidigungsminister – die Richtung aber ist vorgegeben. Der türkische Bildungsrat empfahl 2014, das alte Osmanische Türkisch wieder an den Schulen zu unterrichten. Die Für die 11. und 12. Klasse enthält der Lehrplan die Empfehlung an die Mädchen, keinen Atheisten zu heiraten und den Männern zu gehorchen. Die Lehre vom Jihad und der Scharia wurde nach heftigem Protest zunächst auf das kommende Schuljahr verschoben. Insgesamt aber will der türkische Staatspräsident bis 2019 von 600 Schulbüchern 518 neu überarbeiten lassen.

Wer Geld hat ...

Eine Folge dieser Entwicklungen ist: Wer Geld hat schickt seine Kinder eher auf eine Privatschule. Kinder reicher Eltern erhalten also eine andere Ausbildung als die der Normalverdiener. Das war für die oberen Zehntausend schon immer so. Jetzt aber werden bereits 1,2 Millionen Schüler auf einer Privatschule unterrichtet. Dafür geben türkische Familien nach Auskunft des türkischen Dachverbandes der Handelskammern (TOBB) inzwischen insgesamt 6,3 Mrd USD im Jahr aus. Studiert wird danach oft im Ausland – und viele bleiben dann dort.

Woher kommen die Wissenschaftler der Zukunft? Auch so eine Frage der OECD – und auch bei diesem OECD Ranking liegt die Türkei nun abgeschlagen auf dem letzten Platz. Derweil fordert der türkische Staatspräsident Tayyip Erdogan in einer Rede vor Bildungsexperten der muslimischen Welt (am 26.07.2017): Wir müssen Maßnahmen ergreifen, um den ‚brain drain’ (Auswandern der Wissenschaftler) in die Staaten des Westens zu verhindern. Dass er in dieser Rede über die Gründe für das Abwandern der Wissenschaftler gesprochen hat, ist nicht dokumentiert.

© 2022 Dieter Sauter
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