Dieter Sauter - Krise ? Was für eine Krise ?

Details: Erstellt: 12. August 2018

Gibt es eine Wirtschaftskrise in der Türkei? Eine Krise in den Beziehungen zum Westen, zu den USA ? Oder sogar noch mehr ? (aktualisiert: 14.08.)

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Es gibt keine Krise! – erklärte der türkische Staatspräsident Tayyip Erdogan zumindest noch am Wochenende in einer Rede an der Schwarzmeerküste. Am Montag dann versicherte er den Diplomaten seines Landes: Es werde sich alles wieder beruhigen. Auch der Kurs der Türkischen Lira werde sich wieder auf einem „normalen Niveau“ einpendeln. Immerhin glaubte sogar sein Sohn, Bilal Erdogan, jetzt müsse er seinem Vater beispringen. Von ihm ist normalerweise kein Wort zu hören. Am Wochenende aber lässt er die Presse auf einer Sportveranstaltung in Istanbul hören: Was sich da zur Zeit in der Türkei abspiele, das sei eine Kleinigkeit gegenüber dem Putschversuch vor zwei Jahren.

Tatsächlich sind sich auch die Wirtschaftsanalysten in Europa nicht einig, wie ernst die Lage in der Türkei ist. Die einen verweisen darauf, dass die türkische Wirtschaft vergleichsweise stabil dastehe. Die Unternehmen und Banken seien zwar hoch verschuldet, verdienten aber nach wie vor ganz ordentlich. Die Direktinvestitionen aus dem Ausland hätten wieder zugenommen, der Außenhandel habe sich erholt und einer der wichtigsten Wirtschaftszweige des Landes, der Tourismus, melde gar Rekorde in diesem Jahr.

Andere wiederum zeigen auf die türkische Lira, die sich gegenüber dem Dollar im freien Fall befindet. Wer Schulden in Dollar oder Euro aufgenommen hat, dessen Schulden sind seit Jahresbeginn um über 50 % angestiegen. Wie soll er die je zurückzahlen? Es sieht ja so aus, als würden diese Schulden weiter und weiter wachsen. Da vor allem private Unternehmen hohe Schulden in ausländischer Währung haben und sich das Geld bei türkischen Banken geliehen haben, drohe sogar das gesamte türkische Finanzsystem zusammenzubrechen. Dann wäre nicht nur die türkische Wirtschaft am Ende, auch die Gläubiger in Europa und alle, die mit der Türkei handeln und in der Türkei produzieren wären in großen Schwierigkeiten. Immerhin geht es um ein paar hundert Mrd Euro und fast die Hälfte des Außenhandels der Türkei.

Wer soll das bezahlen ?

Was man jetzt schon sieht. Es bilden sich Schlangen vor den Wechsel-Büros und erinnern an die Wirtschaftskrise Ende der Neunzigerjahre, als die Inflation irgendwann sogar über 100 % gestiegen war. Sie liegt heute „erst“ um die 16 %. Für viele aber liegt sie schon weit darüber. Der Preis für einen Liter Milch stieg im letzten Jahr um 30 %, für Gemüse um 20 %, für Mobiltelefone um 40 %. Wer jetzt Geld wechselt, der wechselt nicht seine Dollar oder Euro in türkische Lira, obwohl das Tayyip Erdogan inzwischen fast in jeder Rede von seinen Bürgern fordert. Wer jetzt wechselt, der wechselt seine türkischen Lira in Dollar oder Euro - und beschleunigt damit den Verfall der türkischen Währung.

Der Schwiegersohn des türkischen Staatspräsidenten, Berat Albayrak, der auch Finanzminister ist, hielt es immerhin für nötig, am Montag gegen „Lügner“ zu wettern: Niemand habe die Absicht, die Sparkonten der Bürger anzutasten – oder Konten in ausländischer Währung zwangsweise in Türkische Lira umzutauschen. Wer solche Lügen verbreite, werde mit aller Härte der Justiz verfolgt.

Auch wenn manche die Kompetenz von Berat Albayrak in Wirtschaftsfragen anzweifeln, er weiß zumindest das: Sollten viele Reiche in der Türkei Ihre Devisen ins Ausland schaffen, vielleicht weil sie Angst haben, dass sie darüber demnächst nicht mehr frei verfügen können, dann hat das türkische Finanzsystem wirklich ein wuchtiges Problem.

Mehr als nur "Spannungen" im Verhältnis zu den USA

Wirtschaftskrise? Es gibt keine Krise, aber“ die USA haben uns ins Bein geschossen“. So beschreibt der türkische Staatspräsident die Lage. Die Türkei befinde sich im „Befreiungskrieg“ gegen die „Belagerung“ ausländischer Mächte, denen es nur darum gehe, eine mächtige Türkei zu verhindern. Angeführt würden diese Mächte von den USA. Die hätten schon damals (2013) die Gezi Proteste unterstützt. Vor zwei Jahren wollten sie das Land gar mit einem Putsch in die Knie zwingen. Das, was sie damals mit Panzern und Gewehre nicht erreicht hatten, das wollten sie jetzt mit Zinsen und Währungsmanipulationen erreichen.

Keine Wirtschaftskrise, sondern ein Kampf gegen böswillige ausländische Mächte? Diese Mär mag vielen in Europa lächerlich vorkommen. In der Türkei kommt das an. Es gehört zum tiefverwurzelten Trauma am Bosporus, zum historischen Gedächtnis der Türkei,
wie die Mächte des alten Europa vor dem Ersten Weltkrieg das Osmanische Reich in die Schuldenfalle zwängten und nach dem Ersten Weltkrieg das Land unter sich aufteilen wollten. Es war der Staatsgründer der modernen Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, der das Volk zu einem „Befreiungskrieg“ aufrief, und dem Land damit seine Unabhängigkeit sicherte.

Und die Opposition ?

Nicht umsonst blasen alle Oppositionsparteien (außer der Kurdenpartei HDP) unisono in das gleiche Horn: Man müsse jetzt zusammenstehen, den Staatspräsidenten unterstützen. Selbst der sog. sozialdemokratische Muharrem Ince (CHP), der als Präsidentschaftskandidat gegen Tayyip Erdogan angetreten war, twittert: Die Amerikaner würden schon sehen, was sie davon haben, wenn sie gegen die Türkei zu Felde ziehen.

Tatsächlich geht es um mehr als nur um „Spannungen“ zwischen den USA und der Türkei. Und schon gar nicht geht es nur um einen in der Türkei inhaftierten amerikanischen Pastor (Brunson)

Die amerikanischen Sanktionen gegen den Innen- und Justizminister der Türkei (weil der Bronsen nicht freigelassen wird), waren eher ‚symbolisch’. Sie haben das ‚Ehrgefühl’ am Bosporus verletzt. Selbst bei der Erhöhung der Zölle auf Stahl und Eisen um bis zu 50 % geht es nicht um nicht wirklich viel Geld, aber sie schüren weiter das Misstrauen der Märkte wie das mit der Türkei wohl weitergeht; ein weiterer Tropfen Öl ins Feuer der türkischen Währungsturbulenzen. Schon vor einigen Tagen haben die USA der Türkei auch den Verkauf von Kampfhelikoptern an Pakistan nicht erlaubt, weil amerikanische Lizenzen davon berührt werden. Es war der bislang größte Aussenhandels-Deal Ankaras über mehr als 1,5 Mrd US Dollar. Schließlich will Washington auch noch die Lieferung neuer Kampfjets (F-35) an die Türkei verzögern oder vielleicht vollständig canceln. Und aus dem Weißen Haus und dem amerikanischen Kongress hört man, das sei noch lange nicht das Ende der Fahnenstange. Und die Unsicherheit, wie das weitergeht, beflügelt den Verfall der türkischen Währung weiter.

Es ist nicht sicher, dass das alles nur außenpolitische Purzelbäume des unberechenbaren Donald Trump sind. Nach und nach hat sich die Türkei für Washington zum Verbündeten nur noch „auf dem Papier“ entwickelt. Es gibt kaum eine Region im Nahen und Mittleren Osten, in der die Politik Ankaras nicht im Widerspruch zu den außenpolitischen Zielen der USA steht: Sei es der Kaukasus, Israel, Iran, Syrien, Ägypten, und nicht zuletzt die Avancen gegenüber Peking und das ständige Dienern vor Putin, der Deal mit ihm in Sachen russischer Pipeline durch türkisches Territorium (Turkish-Stream), der Kauf eines russischen Waffensystems (S-400) - Ankara hat sich außenpolitisch immer offener gegen die Politik der USA in Stellung gebracht.

Ein "Befreiungskampf" gegen die USA?

Man ‚habe sich auch in den siebziger Jahren nicht von den Drohungen Washingtons einschüchtern lassen, und den Türken auf Zypern beigestanden’, so der türkische Staatspräsident. Er erinnert damit an die tiefste Krise der Türkei mit den USA: Die türkische Armee war trotz eindringlicher Warnungen aus Amerika auf Zypern gelandet. Im Zuge dieses Streits hatte Ankara das amerikanische Militär sogar aufgefordert, den Militärstützpunkt Incirlik auf türkischem Territorium zu räumen. Mittlerweile scheint ein ernsthafter Bruch mit den USA nicht ausgeschlossen. Immerhin wurden bei den letzten Parlamentswahlen vor allem die rechtsnationalistischen Kräfte gestärkt, die schon immer gegen ein enges Bündnis Ankaras mit Washingtons waren. Eine arabische Zeitung frohlockte gar, die Türkei sollte doch jetzt wenigstens Ihre NATO Mitgliedschaft auf Eis legen.

Zunächst holt Staatspräsident Erdogan zum nächsten „Schlag“ gegen die USA aus. Er will alle „elektronischen Geräte“ aus Amerika boykottieren. Das ist alles andere als ein Schritt auf dem Weg zur Beruhigung der Lage – auch wenn es eher an eine Parole einer rechtsnationalistischen Splitterpartei aus den 90igern erinnert. Die wollte damals den Dollar verbieten. Die staatseigene Fluglinie Turkish Airlines will außerdem ab jetzt keine Werbung amerikanischer Firmen mehr annehmen. Das ist für eine Fluglinie, die vor allem Devisen benötigt, eher schon Selbstgeiselung.

Es ist also - neben der Wirtschaftskrise – auch eine durchaus ernste Krise der türkischen Bündnispolitik. Wohin die führt, weiß keiner – denn: Das alles ist aber vor allem auch schon jetzt eine Krise des Präsidialsystems.

Die schrittweise Einführung eines fast allmächtigen Staatspräsidenten, die Unterwerfung der Justiz und der Zentralbank unter den Willen des Präsidenten haben zunächst mögliche Geldgeber aus dem Ausland verunsichert. Die immer offenere Unterdrückung jeder Opposition haben selbst im Beraterstab des Präsidenten nur noch Verwandte und Jasager übriggelassen. Es gibt keine offene Diskussion über die Wirtschaftspolitik und die Außenpolitik des Landes mehr. Es gibt kein System mehr, das die Fehleinschätzung eines Mannes korrigieren könnte.

Weiter so ?

Selbst der Verband der Industrie (TÜSIAD) oder die Handwerkskammer (TOBB) waren wochenlang abgetaucht, als ob sie die Finanz- und Wirtschaftsentwicklung am Bosporus nichts angehe. Jetzt haben sie sich zu einer kurzen verschwiemelten Stellungnahme durchgerungen. Die Streitpunkte mit den USA sollten auf „diplomatischem Weg“ gelöst werden und man erwarte eine „konkrete roadmap“ um die Inflation dauerhaft niedrig zu halten. Das war auch ein artiger Diener vor dem Schwiegersohn des Staatspräsidenten. Albayrak hatte gerade drei Tage zuvor angekündigt, er werde ein „neues Wirtschaftsmodell“ für die Türkei vorlegen – im Oktober.

Dazu kommt das jämmerliche Versagen jeglicher Oppositon im Parlament. Die größte Oppositionspartei (CHP) kann sich gerade gar nicht um das Schicksal des Landes kümmern, denn sie ist wieder mal mit einem veritablen Streit beschäftigt, wer die Partei denn nun führen soll.

Ausblick? Ungewiss ! Wenn es kein System mehr gibt, das die Fehleinschätzung eines Mannes korrigieren könnte, dann ist auch alles denkbar. Vom „weiter so!“ in der Finanzpolitik bis zum Bruch mit den USA.

Zunächst greift der Staat zu dem allgegenwärtigen Mittel. Das Innenministerium droht, man habe schon jetzt 346 Accounts in den sozialen Medien genau im Auge – und die Staatsanwaltschaft in Istanbul kündigt an, man werde gegen jeden ermitteln, der in den sozialen Medien ‚Lügen über die Wirtschaft und die Wirtschaftslage’ verbreite und damit das ‚Komplott gegen die türkische Wirtschaft’ unterstütze. Eine neue Spezies von „Terroristen“ wird aus der Taufe gehoben, die „Wirtschaftsterroristen“.

Doch die Krise beginnt erst. Bislang mussten erst einige kleinere Geschäfte und Handwerksbetriebe schließen, weil sie keinerlei finanzielles Polster hatten. Noch kam es zu keinen Massenentlassungen. Noch können viele die Preissteigerungen abfangen, indem sie da und dort weniger oder Billigeres einkaufen. Aber damit beginnt ein Prozess, der in ein immer tieferes Tal führt, denn bislang war das mächtigste Standbein für die Entwicklung der türkischen Wirtschaft der Konsum im eigenen Land. Zunächst ist vieles eine Frage der Zeit. Wird in Kürze der negative Trend aufgehalten? Keiner kann sagen, wohin das führt, wenn am Bosporus bei vielen die Not anklopft.