Dieter Sauter
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Demontage der Demokratie?

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Erstellt: 13. April 2019

Es spricht vieles dafür, dass die Kommunal-Wahl in Istanbul wiederholt wird. Was heißt das ?

190413 istanbul 1511

Es ist, als halte die Türkei seit zwei Wochen den Atem an, weil jeder merkt: Hier geschieht etwas, was in der Geschichte der letzten 70 Jahre des Landes noch nicht da war: Ein Wahlergebnis wird seit Wochen zerredet und zerzweifelt – und die Anzeichen mehren sich, dass der Hohe Wahlrat die Wahlen zumindest in Istanbul wiederholen lässt.


Inzwischen sind seit Schließung der Wahllokale zwei Wochen vergangen, ohne dass es ein amtliches Ergebnis gibt. Im Gegenteil: Mit jedem Tag gibt es neue Anträge und Einsprüche beim Hohen Wahlrat (YSK) . Mit jedem weiteren Tag stirbt das Vertrauen in die Demokratie am Bosporus ein bisschen mehr, denn keiner kann vernünftig erklären, wieso das Auszählen der Stimmen im ganzen Land ein paar Stunden gedauert hat, die wiederholte Auszählung einiger Stimmen in Istanbul aber auch nach zwei Wochen immer noch nicht abgeschlossen ist.


Der ehemalige Staatspräsident, Abdullah Gül, warnt


Nun meldet sich sogar der ehemalige türkische Staatspräsident Abdullah Gül mit einer dringenden Warnung zu Wort. Dass es solange dauere, bis ein Ergebnis der Wahlen in Istanbul veröffentlicht werde, sei nur zum kleineren Teil ein Problem von Rechtsfragen oder eine Frage der Technik, sondern vor allem Ergebnis der politischen Debatten darüber. Das alles schade der Türkei. Die Türkei dürfe auf keinen Fall ein Land werden, in dem über das Ergebnis von Wahlen so gestritten werde. Weiter schreibt er auf seiner Website (12.4.): Seit 1950, seit 70 Jahren also, sei noch nie der Verlauf einer Wahl und ihr Ergebnis so zum Streitthema im Land geworden. Er sehe das mit großem Bedauern.


Offen kritisieren mittlerweile auch islamisch-konservative Journalisten die ganze Situation: Man müsse endlich dieses für die Türkei unwürdige Schauspiel „ala turka“ beenden. (Mehmet Ocaktan, 10.4.)


Vor allem der Hohe Wahlrat, auf dem Papier unabhängig, wird immer schärfer kritisiert. Begonnen hatten die Zweifel an der Arbeit des Wahlrates schon anlässlich des Referendums über die Verfassungsänderung und die Einführung des Erdogan-Präsidialsystems im April 2017. Damals hatten die Wahlbeobachter der OECD kritisiert, dass der Wahlrat noch während die Stimmen ausgezählt wurden, die Regeln einfach geändert hatte. Er ließ damals auch unversiegelte Stimmzettel zur Auszählung zu.


Schauspiel alaturka


Natürlich habe jeder das Recht, so Elif Cakir heute (13.4.) in der Zeitung Karar, Einspruch beim Hohen Wahlrat einzulegen. Inzwischen aber würden die Beschlüsse des Wahlrates dem demokratischen Ansehen auch der AKP und dem Justizministerium schaden. Die Arbeit des Hohe Wahlrates sei keine Garantie mehr für einen rechtmäßigen und ordentlichen Verlauf der Wahlen.


Tatsächlich hat der Wahlrat dem Antrag der AKP auf erneute Auszählung der Stimmen in Istanbul sofort zugestimmt, ohne dass die AKP irgendeinen Beleg für eine Unregelmäßigkeit bei der Auszählung vorgelegt hatte.


Alle Einsprüche der kurdennahen HDP dagegen wurden vom Wahlrat abgelehnt, obwohl diese zahlreiche Dokumente vorgelegt hatte, die einen Verdacht auf Unregelmäßigkeit begründen sollten.


Zur Wahl zugelassen – aber gewinnen darf man nicht


Inzwischen hat der Wahlrat sogar sieben gewählten Bürgermeistern der HDP ihr Mandat wieder entzogen, weil sie während des Ausnahmezustandes aus dem öffentlichen Dienst entlassen worden seien. Tatsächlich gibt es dazu keine Bestimmung im Wahlgesetz, und noch schlimmer: Derselbe Wahlrat hatte diesen Kandidaten zuvor die Teilnahme an den Wahlen mit Siegel und Stempel erlaubt. Nun sollen die Kandidaten mit den zweitmeisten Stimmen Bürgermeister werden - und das sind allesamt Mitglieder der AKP. In einer anderen Stadt (Mardin) soll der gewählte HDP Bürgermeister (Ahmet Türk) nach dem Willen der AKP seinen Posten wieder verlieren, weil er „alt und krank“ sei.


In Istanbul endlich hatte die AKP 10 Tage (!) nach Schließung der Wahllokale die Wiederholung der Wahlen in einem Stadtteil von Istanbul (Büyükcekmece) beantragt. Dort hatte der Kandidat der Oppositionspartei CHP gewonnen. In einem Großeinsatz ging die Polizei von Haus zu Haus, um die offiziellen Wählerlisten zu überprüfen. Obwohl der Innenminister dementiert, etliche Zeitungen melden, die Beamten hätten die Bewohner auch gleich noch gefragt, wem sie bei der Wahl ihre Stimme gegeben hätten. Laut AKP habe man nun Wohnungen entdeckt, in denen mehrere Wähler gleichzeitig gemeldet seien.


In der Stadt Yalova aber, unweit vor Istanbul, hatte der CHP Kandidat für den Posten des Bürgermeisters (Ali Cetinkaya) schon im Januar den Hohen Wahlrat darauf hingewiesen, dass in einer Wohnung 52 (!) Personen gemeldet seien. Diesen Einspruch hatte der Wahlrat abgelehnt.


Wahlwiederholung für die „Volksseele“ ?


Nun traf sich gestern der türkische Staatspräsident Tayyip Erdogan mit seinem rechtsnationalistischen Bündnispartner Devlet Bahceli (MHP) – und Bahceli lässt heute erklären, man könne durchaus über die Wiederholung der Wahlen in Istanbul nachdenken, um die aufgewühlte Volksseele zu beruhigen. Das ist nicht nur so daher gesagt.


Bekanntlich hatte Tayyip Erdogan schon vor einigen Tagen über den damaligen Wahlsieger der CHP in Istanbul , Ekrem Imamoglu, gesagt: Wer bei einer Wahl nur 13 tsd oder 14 tsd Stimmen Vorsprung habe, könne sich nicht als Sieger aufspielen. Er selbst hatte allerdings im April 2017, als er mit kaum mehr als 1 % Vorsprung sein Verfassungsreferendum gewann, dem türkischen Fernsehsender CNN erklärt: „Ein Sieg ist ein Sieg“.


Den ersten Beschluss zur Wiederholung der Kommunalwahlen hat Wahlrat bereits gefasst. In der Stadt Honaz an der Ägäis, wird am 2. Juni neu gewählt. Dort hatte der Kandidat der Oppositionspartei CHP mit 8 Stimmen Vorsprung vor dem AKP Kandidaten gewonnen. Alle Einsprüche der CHP oder HDP in Wahlkreisen, in denen der AKP Kandidat mit nur 1 Stimme Vorsprung gewann (Artvin), oder mit 3 ( in Mus und Malazgirt) wurden vom Wahlrat abgelehnt.
Fehlkalkulationen


Sollte der Wahlrat tatsächlich die Wahlwiederholung für ganz Istanbul beschließen, könnte der türkische Staatspräsident Erdogan erneut drastisch daneben-kalkulieren. Offenbar hatte er nicht damit gerechnet, dass sein Bürgermeisterkandidat in Istanbul geschlagen werden könnte. Möglicherweise unterschätzt er auch die Folgen einer solchen Wahlwiederholung. Abgesehen vom Ausland könnte sie seinem Ansehen in der Türkei mehr schaden, als er erwartet.


Nicht einmal die AKP Wähler (61,4%) in Istanbul glauben, dass Unregelmäßigkeiten bei der Kommunalwahl das Ergebnis der Wahlen maßgelblich beeinflusst haben. Fast zwei Drittel der Wähler (65,3%) halten eine Wahlwiederholung in Istanbul für unnötig. Diese Zahlen hat das türkische Forschungsinstitut Mediar gerade veröffentlicht.


Mit dem ehemaligen Staatspräsidenten Abdullah GÜL und den islamisch-konservativen Kommentatoren wagen sich erstmals auch Stimmen innerhalb seines eigenen Lagers offen gegen ihn.


Der Kommentator Mehmet Ocaktan schrieb jedenfalls vor drei Tagen: Wenn man jetzt die Wahlen wiederholen lasse, schade das gewaltig der Demokratie und dem Vertrauen in demokratische Wahlen im Land. ‚Wir sind in Sachen entwickelter Demokratie, klarer Gewaltenteilung und in Sachen Kontrolle und Ausgewogenheit in der Politik weit zurückgeblieben. Aber wir haben immer noch ein funktionierendes Wahlsystem. Wenn wir das auch noch zerstören, dann verlieren wir alles Vertrauen der Gesellschaft in die Demokratie.’

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