Dieter Sauter
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Ist das eine gute Wahl ?

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Erstellt: 07. Mai 2019

Der Hohe Wahlrat hat die Kommunalwahlen in Istanbul – nach der Niederlage der Regierungspartei AKP – für ungültig erklärt. Wohin steuert die Türkei ?

190507 istanbul

 

„Nicht die Kommunalwahlen in Istanbul wurden für ungültig erklärt – die Demokratie wurde für ungültig erklärt“ – etliche Kommentatoren am Bosporus lassen heute Morgen keinen Zweifel daran: Die Entscheidung des Hohen Wahlrates der Türkei, die Kommunalwahlen in Istanbul wiederholen zu lassen, ist eine Wende in der Geschichte der Republik. Besonders fragwürdig erscheint, dass der Wahlrat nur die Stimmabgabe für den Oberbürgermeisterposten für ungültig erklärt. Den hatte die AKP bekanntlich an den Kandidaten der Opposition, Ekrem Imamoglu, verloren. Die Stimmabgabe für die Stadtparlamente und die Bezirke aber sollen gültig bleiben. Dort hatte die AKP gewonnen.

Zwei Tage vor der Entscheidung des Hohen Wahlrates hatte sich der türkische Staatspräsident Tayyip Erdogan auch öffentlich festgelegt: „Meine Mitbürger sagen mir: Verehrter Präsident, diese Wahl soll wiederholt werden!“ Tatsächlich hatte eine offizielle Umfrage wenige Tage nach den Wahlen genau das Gegenteil ergeben: Nur 16,5 % sprachen sich für eine Wiederholung der Wahlen aus.

Kurz vor dieser Rede Erdogans wurden vom Republik-Staatsanwalt 32 Ermittlungsverfahren wegen strafrechtlich relevanter Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen eingeleitet und er schickte 100 Aufsichtspersonen von Wahlbüros eine Vorladung zu. Damit war der Vorwurf der AKP, es habe Betrug bei den Wahlen gegeben, auch juristisch eindrücklich untermauert. Auf die Justiz kann sich der Staatspräsident mittlerweile uneingeschränkt verlassen.

‚Man kann nicht einfach ein Wahlergebnis akzeptieren, nur weil so abgestimmt wurde’

Der Bündnispartner von Tayyip Erdogan, der Führer der rechtsnationalistischen Partei MHP, Devlet Bahceli, war noch deutlicher: Man könne ein Wahlergebnis nicht einfach akzeptieren, nur weil so abgestimmt worden sei (20.4.)

Kenner der Szene in Ankara wie der langjährige Korrespondent der türkischen Tageszeitung Hurriyet, Murat Yetkin, berichten nun: Die AKP habe aus gutem Grund einen Wahltermin Ende Juni ins Auge gefasst. Denn Ende Juni ist in der Türkei hohe Ferienzeit. Diejenigen, die für den Kandidaten der Opposition ( Ekrem Imamoglu von der CHP) gestimmt hatten, seien finanziell besser gestellt als die AKP Wähler. Viele CHP Wähler seien also wahrscheinlich im Urlaub, während sich die meisten AKP Wähler garkeinen Urlaub leisten könnten.

Außerdem würde der Hohe Wahlrat noch beraten, ob nicht ein ganz neues Wählerverzeichnis erstellt werden müsste. Weit über hunderttausend Wähler wohnten zwar in Istanbul, seien aber dort als Wähler gar nicht registriert. Sie hätten sich bislang nicht ordentlich angemeldet. Diese Wähler hätten bei der Kommunalwahl Ende März ihre Stimme in dem Dorf abgegeben, aus dem sie ursprünglich stammten – und dort meist AKP gewählt. Würden die nun in Istanbul zur Wahl gehen, sei ein Sieg der AKP am Bosporus gesichert. Tatsächlich hatten Erdogans Partei ja nur wenige Stimmen gefehlt.

Dass bei solch einem Verfahren die AKP Wähler auf dem Dorf nun auch noch zum zweiten Mal ihre Stimme in Istanbul abgeben können, das irritiert bislang niemanden. Der Kommentator Can Atakli jedenfalls zitiert den türkischen Staatspräsidenten mit den Worten: „Bei Neuwahlen werden wir die Wahlen hundertprozentig gewissen“ (4.5.)

Ist das wirklich sicher?

Ob das wirklich sicher ist? Die CHP, die bei den Wahlen bislang vorne lag, hat sich in nur wenigen Stunden von dem Gedanken an einen Wahlboykott verabschiedet. ‚Wenn wir uns an den Wahlen beteiligen, dann erkennen wir diesen Raub des Wahlsieges an und machen uns gar zum Mittäter bei diesem Spiel’, war zunächst zu hören. Das ist wohl nicht mehr aktuell. Sie hofft, dass das Hin- und Her und unverblümte Taktieren der AKP ihr noch mehr Stimmen beschert, als Ende März. Außerdem ist ihr Kandidat, Ekrem Imamoglu, vormals ein vollständig Unbekannter, inzwischen ein vielbeachteter Politiker.

Dazu kommt: In den nächsten Wochen werden die wirtschaftlichen Probleme des Landes noch gravierender spürbar werden, als bisher. Die Inflation bei Lebensmitteln liegt inzwischen bei 32 %. Dabei hatte der Schwiegersohn des Staatspräsidenten, Berat Albayrak, der zuständige Minister für Wirtschaft und Finanzen, noch vor einem Monat versichert: Bis September wird die Inflationsrate wieder einstellig sein.

Die türkische Währung verfällt weiter. Mit der Entscheidung des Hohen Wahlrates sackte der Kurs der türkischen Lira heute Morgen noch weiter in den Keller. Dabei hatte Berat Albayrak noch vor wenigen Tagen versichert: Neuwahlen in Istanbul würden auf den Finanzmärkten zu keiner Reaktion führen.

Wie hilflos Erdogan angesichts der wachsenden Arbeitslosigkeit reagiert, zeigt sein Vorschlag, den er letzte Woche der Handelskammer unterbreitete: ‚Die Handwerkskammer hat doch 1,5 Mio Mitglieder! Wenn jedes Mitglied nur 2 Arbeiter einstellt, dann haben wir bis Ende des Jahres 3 Millionen Arbeiter in Lohn und Brot gebracht’ – meinte er (3.5). Nicht bedacht hatte er: Die Vereinigung der Handwerker (TESK) klagte gerade, allein in den ersten drei Monaten des Jahres hätten 30 tsd Handwerksbetriebe schließen müssen. Im gleichen Zeitraum letztes Jahr waren es nur 4 tsd .

Angesichts dieser Lage fand sogar der Industriellenverband (TÜSIAD)  den Beschluss des Hohen Wahlrates sehr "besorgniserregend" - ein ungewöhnlicher Vorgang, denn TÜSIAD hatte sich in den letzten Jahren nie mehr zu politischen Fragen geäußert. Statt erneut Wahlen abzuhalten solle man sich lieber auf die Lösung der wirtschaftlichen Probleme des Landes konzentrieren, hieß es aus den Unternehmerkreisen nun. 

Die Opposition in den eigenen Reihen

Besonders schwer wird ein neuerlicher Wahlsieg der AKP aber vor allem auch, weil sich inzwischen eine Opposition innerhalb der AKP deutlich zu Wort meldet.

Diese Opposition war schon immer gegen das Erdogan’sche Präsidialsystem und gegen eine Gängelung der Medien und der Justiz durch die Politik. „Wir brauchen eine Politik, die nicht pöbelt, sondern sich um die Lösung der Probleme des Landes kümmert“, schreiben ihre Unterstützer in konservativen Medien. ‚So wie sich das Land positiv verändert hat, seit die AKP an der Macht ist, so hat sich die AKP seither negativ verändert’ – klagen sie. Neuwahlen ist Istanbul? ‚Macht das bloß nicht! Die Geschichte wird euch das nie vergessen! – warnte schon am 10. April der konservative Kritiker, Yildiray. ‚In 69 Jahren habe die Republik 46 Wahlen ohne Probleme bewältigt, selbst in den Jahren, in denen das Militär putschte’. Oder Fatma Bostan, einst Gründungsmitglied der AKP: Wenn es bei den Wahlen zu Fälschung und Betrug gekommen sei, dann müsste erstmal die Regierung oder zumindest der Innenminister Soylu zurücktreten, denn die seien doch für den ordnungsgemäßen Ablauf der Wahlen verantwortlich.

Zu den innerparteilichen Gegnern Erdogans zählen politische Schwergewichte wie der ehemalige Staatspräsident (Abdullah Gül) , der ehemalige Regierungschef (Ahmet Davutoglu), der ehemalige Wirtschaftsminister (Ali Babacan), der ehemalige Vorsitzende des Verfassungsgerichtes (Hasim Kilic), die ehemaligen Oberbürgermeister von Ankara und Istanbul und ein paar dutzend weitere Funktionäre und Abgeordnete der AKP.

Eine neue Partei?

Wird sich die AKP spalten? „Wo es Rauch gibt, da gibt es auch Feuer“, hörte man bislang, wenn man fragte, was an den Gerüchten über die Gründung einer neuen Partei dran sei. Erst wenn der Hohe Wahlrat entschieden habe, dann liege der Ball wirklich im Spielfeld der Opposition. 

Vielleicht hat der Beschluss des Hohen Wahlrates einen ganz anderen Effekt, als ihn die AKP erhofft. Möglicherweise hat er damit das Zerbröseln des Machtfaktors AKP beschleunigt.

Sicher ist: Der Ton am Bosporus wird in den nächsten Wochen noch rauher, als er jetzt schon war und viele fürchten, dass der „spontane Volkszorn“ auf den politischen Gegner noch öfter überkochen könnte, als bisher.  (siehe auch den Artikel: Demontage der Demokratie) 

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